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Joseph Haydn Streichquartett Opus 77 Nr. 1

Das Jahr 1799. Joseph Haydn, der "Vater des Streichquartetts", schließt für sich langsam mit dieser Gattung ab. Seine beiden Quartette op. 77 sind aber keineswegs ein Abgesang: In ihnen zeigt Haydn noch einmal seine ganze Erfahrung - und weist auch in die Zukunft. Barbara Doll hat mit Loïc Rio vom Quatuor Modigliani über das Werk gesprochen.

Joseph Haydn | Bildquelle: Claudia Maria Knispel: "Joseph Haydn", Reinbek 2003

Bildquelle: Claudia Maria Knispel: "Joseph Haydn", Reinbek 2003

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Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven bekommen im selben Jahr exakt denselben Kompositionsauftrag. Sechs Streichquartette. Ein Zufall? Keineswegs. Denn auch der Auftraggeber ist ein und derselbe: Fürst Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz, geboren 1772 in Böhmen. Lobkowitz war ein adliger Generalmajor, aber seine eigentliche Liebe galt der Kunst. Er war Gründungsmitglied der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde und wollte, dass sich auch einfache Bürger einen Konzertbesuch leisten können. Lobkowitz spielte selbst Geige und Cello - und er förderte Komponisten. Beethoven unterstützte er mit einer Jahresrente von 4.000 Gulden, und der widmete ihm einige seiner größten Werke, darunter die dritte, fünfte und sechste Symphonie. Mit Haydn dagegen hatte Lobkowitz keine so enge Verbindung. Warum gab er Haydn und Beethoven dann denselben Auftrag? Wollte der 26-jährige Fürst die beiden Komponisten gegeneinander antreten lassen? Musikalische Wettbewerbe waren damals durchaus üblich.

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Völlig neuer Stil

Über die Gründe von Fürst Lobkowitz lässt sich nur spekulieren. Fest steht, dass Haydn bloß zwei der bestellten sechs Quartette fertiggeschrieben hat. Beethoven dagegen schrieb zum ersten Mal für die Gattung - und begründete mit seinen sechs Quartetten Opus 18 einen völlig neuen Stil: Er verknüpfte die motivisch-thematische Arbeit mit den harmonischen Wechseln. "Das ist wirklich interessant", sagt Loïc Rio; Zweiter Geiger des Quatuor Modigliani. "Man muss Haydns und Beethovens Quartette gar nicht miteinander vergleichen, man fühlt es: Die einen beenden ein Jahrhundert, die anderen eröffnen ein neues. Man merkt auch, dass sich die Bogentechnik weiterentwickelt hat: Der französische Bogenbauer Tourte hat damals die ersten Bogenstangen aus Pernambukholz gebaut - und die machten einen viel kräftigeren Klang. Aber es klang immer noch elegant, und Haydn war ja ein Mann des galanten 18. Jahrhunderts."

Brillanter Kontrapunkt und erzromantisches Adagio

Quatuor Modigliani | Bildquelle: Quatuor Modigliani Bildquelle: Quatuor Modigliani In seinem Streichquartett Opus 77 Nr. 1 geht Haydn aber über die Tonsprache des 18. Jahrhunderts hinaus. Der erste Satz beginnt wie ein Marsch und spinnt sich dann mit unzähligen Einfällen fort. Ein brillanter Kontrapunkt, virtuose Soli und Dialoge. Das Adagio ist einer der schönsten und innigsten Sätze, die Haydn je geschrieben hat. Es klingt erzromantisch, so, als hätte es Franz Schubert komponiert. Das zeigt, wie sehr Haydn auf den Quartettstil der Romantiker vorausweist: mit Modulationen, mit der Verbindung von Reihungs- und Entwicklungsprinzip, mit der Unterscheidung zwischen Oberstimmen- und Tuttisatz. Erst spielen die Instrumente das Hauptmotiv im Unisono. Dann wandert es durch die Stimmen.

Das zu spielen, ist ein seltsames Gefühl.
Loïc Rio vom Quatuor Modigliani

Rubato oder Linie?

"Das Cello und die erste Geige beschreiben alles - alle Gefühle, jedes Vögelchen … und der Bratschist und ich bewegen uns ständig vorwärts, durch verschiedene Landschaften", erklärt Loïc Rio. "Da ist immer dieses 'dam bam bam bam' - wie der Lauf des Lebens. Immer weiter. Das zu spielen, ist ein seltsames Gefühl, weil wir uns immer fragen: Sollen wir auf das Rubato der ersten Geige warten? Oder sollen wir auf unserer Linie bleiben? Wir machen dann etwas dazwischen. Ein ganz schön diplomatischer Job."
Der dritte Satz hat Kraft und Tempo. Haydn hatte wohl schon die radikale Tonsprache seines früheren Schülers Beethoven im Ohr. Er hat den Satz als ganztaktiges Menuett angelegt - mit dem Effekt, dass es vorwärtsdrängt wie ein Beethoven-Scherzo. Auch im Presto-Finale weist Haydn auf Beethoven voraus, wenn er aus Rondo-Elementen einen komplexen Sonatensatz aufbaut. Aber trotzdem ist er noch ganz der Alte - und verblüfft mit typischen Haydn-Überraschungen.

Haydns Geheimnis

Diese Musik klingt nicht, als hätte hier jemand keine Lust mehr aufs Komponieren gehabt. Umso mehr fragt man sich: Warum hat Haydn dem Fürsten Lobkowitz nur zwei statt der bestellten sechs Quartette geliefert? Wollte er sich ganz auf die Komposition der "Theresienmesse" und der "Jahreszeiten" konzentrieren? War er zu krank? Haydn litt unter Herzmuskelschwäche, und ein Nasenpolyp erschwerte ihm das Atmen. Oder hatte er etwa Beethovens Streichquartette gehört und gespürt, dass seine Zeit vorüber ist? Wir wissen es nicht. Joseph Haydn hat dieses Geheimnis mit ins Grab genommen.

Musik-Info

Joseph Haydn:
Streichquartett Nr. 81 in G-Dur, op. 77/1


Quatuor Modigliani

Label: Mirare

Sendung: "Das starke Stück" am 13. März 2018, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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