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Dieter Borchmeyer zu Karajans "Walküre" in Salzburg Das Gespenst der "Retro"-Inszenierung

Vor 50 Jahren gründete Herbert von Karajan die Osterfestspiele Salzburg. Zum Jubiläum kommt hier Wagners "Walküre" auf die Bühne - nach Vorbild Karajans und seines Bühnenbildners Schneider-Siemssen. Der Literaturwissenschaftler und Wagner-Experte Dieter Borchmeyer geht für BR-KLASSIK dem Geist der "Re-Kreation" auf den Grund.

Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Ein Gespenst geht um im europäischen Theater: das "Retro"-Gespenst. Die Salzburger Festspiele werden dieses Jahr mit einer Neuinszenierung eröffnet, die man besser Altinszenierung nennen möchte: als Karajan-Jubiläum erlebt seine genau 50 Jahre alte Inszenierung der "Walküre" mit den Bühnenbildern von Günther Schneider-Siemssen ihre "Re-Kreation"  - so das neue Kunstwort.

Da man Karajan nicht mehr aus dem Hades heraufbeschwören kann, hat Vera Nemirova seine Regiearbeit übernommen. Diese kann freilich keine echte Reaktualisierung von Karajans Regiekonzept sein, denn dazu müsste es von ihm eine rekonstruierbare Inszenierungspartitur geben, in der jede Bühnenbewegung vorgezeichnet ist. Das ist jedoch eine Seltenheit. Mir ist dafür nur ein konkretes Beispiel bekannt: die legendäre Münchner "Figaro"-Inszenierung von Günter Rennert, die in der Tat zumindest von ihren äußeren Bewegungsabläufen her jederzeit zu restaurieren wäre - wonach sich manche Münchner Opernfreunde sehnen, die diese Inszenierung noch gesehen haben.

Bildete die "Re-Kreation" der "Walküre" eine Ausnahme, so wäre gegen sie als einmaliges Experiment - und als Akt dankbarer Erinnerung an den Gründer der Osterfestspiele - wohl nicht allzu viel einzuwenden. Schließlich ist Karajan, so viel man gegen seine Affinität zum gesellschaftlichen und ästhetischen Luxus einwenden mag, eine epochale Musikerpersönlichkeit gewesen, der zumal die Wagnerschen Partituren auf einzigartige Weise neu ausgeleuchtet hat. Zudem ist Christian Thielemann, unzweifelhaft einer der großen Dirigenten unserer Zeit, Karajan als seinem Mentor künstlerisch und menschlich in besonderer Weise verbunden. Eine entscheidende Motivation für die Wiederherstellung oder Wiedererschaffung der "Walküre"-Inszenierung von 1967 ist sicher auch die Erinnerung an Günther Schneider-Siemssen - einen der ingeniösesten Bühnenbildner in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, so umstritten er schon seinerzeit angesichts des aufstrebenden Regietheaters war, das ihn gern als ästhetischen Reaktionär abtat.

Eine künstlerische Totenbeschwörung?

Wohlgemerkt: als Ausnahme mag die Salzburger Altneuinszenierung ein respektables ästhetisches Experiment sein. Doch sie ist durchaus keine Ausnahme. Soeben ist an der Opéra de Lyon ein "Festival Mémoires" zu Ende gegangen, das drei repräsentative Opernaufführungen der letzten Jahrzehnte zu restaurieren unternommen hat: Ruth Berghaus’ Inszenierung der "Elektra" von 1986, Heiner Müllers "Tristan" von 1993 und Klaus Michael Grübers "Krönung der Poppea" von 1999. "Drei emblematische Aufführungen der deutschen Theaterschule am Ende des 20. Jahrhunderts", so wirbt das Opernhaus für sein "Festival Mémoires". Das französische Theater scheint sich gegenwärtig in einer Sackgasse zu befinden, und so ist die "école théâtrale allemande" seit einiger Zeit in Frankreich hoch im Kurs, sind Regisseure wie Frank Castorf oder Thomas Ostermeier Kult. Doch sollte dieser Kult nun zu einer künstlerischen Totenbeschwörung ausarten?

Wir können Karajan und Schneider-Siemssen nicht mehr fragen, wie sie zu der "Re-Kreation" ihrer "Walküre" etwa stehen würden. Doch wollten wir uns ein Totengespräch mit den beiden Künstlern im Hades erlauben - diese Gattung hat ja eine lange literarische Tradition - so bin ich sicher, dass sie zu der Wiederaufführung ihrer "Walküre" ihr freudiges Plazet geben würden, sofern man sich im Schattenreich noch freuen kann. Denn gewiss strebte Karajan nach so etwas wie zeitlosen Musteraufführungen, die er glaubte in Video-Aufzeichnungen für die Zukunft festhalten zu können, und auch Schneider-Siemssen dürfte seine Bühnenbilder für überzeitliche Kunstwerke gehalten haben. Aber Ruth Berghaus, Heiner Müller und Klaus Michael Grüber würden sich in einem Totengespräch wohl mit Händen und Füßen ihrer Schattengestalt gegen eine Wiedervergegenwärtigung ihrer Inszenierungen wehren. Sie waren Repräsentanten eines Regietheaters, das Konventionen durchbrach, Festgefahrenes, vermeintlich Zeitüberlegenes in Frage stellte und das Theater als transitorische, vorübergängliche Kunst auffasste, die stets von neuen Impulsen ausgehen muss, vom Choque des Neuen, das sich eben nicht in einem Erinnerungstheater festschreiben, musealisieren lässt.

Günther Schneider-Siemssens Bühnenbildentwürfe

Und wie soll sich überhaupt das Flair einer vergangenen Aufführung ohne die ordnende Hand eines an ihr beteiligten Regisseurs wieder verlebendigen lassen? Im Falle von Heiner Müllers "Tristan" ist überdies bekannt, dass sich nach seinem Tod die Personenregie der Bayreuther Aufführung sehr deutlich gewandelt hat, die für die originale Inszenierung charakteristische rigorose Distanz der Personen zueinander durch eine intensivere emotionale Interaktion zwischen ihnen abgelöst wurde. Man erreicht die Originalgestalt der Inszenierung durch ihre Restauration also gar nicht mehr. Was von ihr allenfalls übrig bleibt, ist das Bühnenbild - wie der Brunnen mit seinen Wasserspielen, wenn das Wasser ausfällt.

Reproduktion der Reproduktion

Theater ist eine reproduzierende Kunst. Die Reproduktion aber noch einmal zu reproduzieren, ist ein circulus vitiosus. Gewiss, es gibt bedingte Ausnahmen. August Everding hat in Berlin die "Zauberflöte" in den rekonstruierten Kulissen Schinkels inszeniert - mit lebhaftem Erfolg. Überhaupt: wenn sich die historisch informierte musikalische Praxis um die originalen Instrumente und Aufführungsbedingungen vergangener Zeiten bemüht, warum soll das Theater dies nicht auch - und einschlägige Versuche sind ja in der Tat angestellt worden. Hat man sich auf diese Weise die Vergangenheit vergegenwärtigt, kann man sich ja - gewissermaßen historisch geläutert und belehrt - wieder dem modernen Instrumentarium zuwenden, wie es die bedeutendsten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis auch immer wieder tun.

Doch die Inszenierungspraxis nicht der eigenen Epoche des Werks, sondern einer späteren Zeit zu rekonstruieren, ist so fragwürdig, wie es die Restauration der Aufführung etwa der Bachschen Passionen durch Furtwängler oder Mengelberg wäre. Es bedarf einer solchen Restauration nicht, denn die Medien haben sie ja sehr oft aufbewahrt, und sie können dergestalt als Video oder CD ihre möglicherweise fortwirkende Anregungskraft auch für eine zeitgenössische Aufführungspraxis entfalten. Und wer Schumann liebt, möchte natürlich wissen und hören, wie seine Aufführung der Bachchen Johannespassion seinerzeit geklungen haben mag. Aber eine vergangene Aufführungspraxis im Interesse einer Memorialkultur auf der Bühne oder dem Konzertpodium wieder Gegenwart werden zu lassen, als sei keine Zeit vergangen, zerstört gerade das Wesen der Erinnerung,  die eben nicht unveränderte Aufbewahrung der Vergangenheit ist, sondern sich diese aus der Perspektive der eigenen Gegenwart anverwandelt.

Die Kluft zwischen theatraler und musikalischer Aufführungspraxis

Wieso aber taucht zur Zeit das Retro-Gespenst auf dem Theater auf? Gewiss ist es nicht zuletzt dem Überdruss des Publikums am Regietheater zu verdanken, das sich vielfach selbstherrlich und respektlos über die eigenen Strukturen und Gehalte der aufgeführten Werke hinwegzusetzen und dem die geschmähte Werktreue ein hohler Wahn zu sein scheint. Heute besteht eine auffallende Kluft zwischen theatraler und musikalischer Aufführungspraxis. Kein bedeutender Musiker kann heute mehr ohne historische Information auskommen. Keiner der großen Dirigenten und Instrumentalisten unserer Zeit setzt sich noch über die "Werktreue" hinweg, wie das in vergangenen Virtuosenzeiten oft so selbstverständlich der Fall war. Eingriffe in die Partitur, selbst Kürzungen kanonischer Werke oder das Auslassen von Wiederholungen, sind vielfach verpönt.

Das bringt zumal die zeitgenössische Opernaufführung immer wieder in einen heillosen ästhetischen Konflikt: Oben wirken Regisseur und Bühnenbildner, wie es ihnen ihre eigene Genialität oder Nichtgenialität eingibt, unten am Pult steht der Dirigent, der eine Anpassung der Partitur an das Regiekonzept verwirft. Und die Sänger auf der Bühne singen so stilgerecht, wie es Partitur und Dirigent vorschreiben, aber als Schauspieler beugen sie sich den Intentionen des Regisseurs, der oft tief verändernd in die Werkgestalt eingreift. So stellt sich eine Opernaufführung immer wieder als ein rechter Wechselbalg ohne ästhetische Einheit dar, bei dem musikalische und szenische Realisierung auseinanderklaffen, ja der Sängerdarsteller eine schizophrene Erscheinung bildet, hin und hergerissen zwischen einer werkgetreuen musikalischen und einer werküberlegenen oder werkfremden szenischen Reproduktion.

An dieser ästhetischen Zwiespältigkeit leiden viele Dirigenten und Sänger - was sie freilich meist nur hinter vorgehaltener Hand verraten und so gut wie nie an die Öffentlichkeit tragen, denn es hat sich in den Opernhäusern eine Art von "balance of power" eingebürgert: Der Dirigent mischt sich nicht in die Regiearbeit ein, und der Regisseur hütet sich, dem Dirigenten ins Handwerk zu pfuschen, lässt seine ästhetische Subjektivität dafür am Operntext aus, den er als seine Domäne betrachtet. Und die Sängerdarsteller haben sich mit ihrer Bewusstseinsspaltung als partiturbezogene Sänger und regiegesteuerte Darsteller abzufinden, wenn sie nicht ins Abseits des Opernbetriebs geraten wollen.

Keine Lösung des modernen Regieproblems

Bezeichnend, dass die gegenwärtige Retro-Tendenz im Wesentlichen das Musiktheater betrifft, gibt es doch die beschriebene Gegenläufigkeit von Reproduktionstendenzen im Schauspiel naturgemäß nicht. Da gibt es nur den einen Herrscher: den Regisseur, keine Kompetenzaufteilung nach den Gesetzen der beteiligten Künste. Kann man es einem Dirigenten wie Thielemann übrigens verdenken, wenn er sich auf eine Retro-Inszenierung einlässt, die ihm einmal ermöglicht, eine der musikalischen korrespondierende szenische Realisierung zu dirigieren - in der etwa die für die Symbolik des Dramas grundlegende Weltesche wirklich noch majestätisch die Szene  beherrscht -, anstatt an der Bühne vorbeidirigieren zu müssen, wie es in fast allen, mehr oder weniger missglückten, Inszenierungen der von ihm geleiteten Salzburger Osterfestspiele bisher der Fall war? Eine ästhetisch glaubwürdige Lösung des modernen Regieproblems ist eine solche Retro-Inszenierung oder Re-Kreation - über den Ausnahmefall hinaus - freilich nicht. Auf sie werden wir wohl noch lange warten müssen.      

Der Autor

Dieter Borchmeyer, geboren 1941 in Essen, war bis 2006 Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg. Von 2004 bis 2013 war er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Stiftungsratsvorsitzender der Ernst von Siemens Musikstiftung. Dieter Borchmeyer ist Autor zahlreicher Bücher und ein ausgewiesener Experte für die Weimarer Klassik, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Thomas Mann. Im Jahr 2000 erhielt er den Bayerischen Literaturpreis (Karl-Vossler-Preis). Soeben ist sein vieldiskutiertes Buch "Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst" (Rowohlt Berlin Verlag 2017) erschienen.

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