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Operetten-Boulevard Visitenkarte Gestatten? Operette.

Visitenkarte | Bildquelle: BR

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"Operette", das klingt nach einer adretten kleinen Ausgabe der Oper! Und tatsächlich. So wird Operette meistens auch präsentiert: Als nettes musikalisches Märchen für Erwachsene mit luxuriösen Kostümen, einem üppigen Bühnenbild, mit vielen Sängern, einem großen Chor und hübschem Ballett.
Und so war das auch gedacht. Die Operette soll nett, berauschend, witzig und unterhaltend wirken. Vordergründig!

Hintergründig ist Operette das Gegenteil: Bissig, böse und enttarnend. Sie zeigt pointiert, wie Menschen wirklich sind: kleinlich, geizig, gierig, egoistisch, unehrlich, manipulativ, größenwahnsinnig, machtversessen, sexhungrig, böse, dumm - kurz auf ihren Vorteil bedacht.
Damit das Publikum gern in diesen Spiegel blickt, muss das Ganze natürlich gut verpackt sein. Es sollte schließlich herzlich über diese Fehler lachen können, die der Anwesenden natürlich ausgenommen!

Wer will solche Selbsterkenntnisse schon eins zu eins um die Ohren gehauen bekommen? Besser geht es doch mit Zuckerguss. Das wusste schon die Commedia dell’arte, die Posse und das Vaudeville, das wusste Molière, der Harlekin, der Kasper, Till Eulenspiegel und wie die vielen Ahnen und Verwandten der Operette noch heißen.
Ja, früher hat es gereicht, wenn die Darsteller in raffinierten Kostümen und opulenten Bühnenbildern Bosheiten von sich gaben. Das Publikum hat die Botschaft trotzdem sehr gut verstanden.
Es war einfach frech, wenn ein Alter eine Junge wollte, eine Ehefrau mit anderen Herren flirtete oder ein Onkel seinem Neffen das Geld stahl. Man erkannte die wahren Menschen dahinter, weil es ja auf der Bühne in etwa so zuging - wie im wirklichen Leben. Einfach durch eine Lupe vergrößert.

Heute allerdings wirken diese Dinge harmlos, wenn sie nicht übersetzt werden. Sie gehen dann in der hübschen Verpackung unter – und Operette wird missverstanden als simples Unterhaltungstheater. Dabei ist sie die Symbiose aller Theaterformen, die es in Europa gibt: von der Oper über das Volkstheater und das Kabarett bis hin zu Ballett, Schauspiel oder Revue. Operette kennt kein Schubladendenken!

Am Ende aber – nach dem Ausloten aller theatralischer Möglichkeiten des jeweiligen Themas, nach den typischen Lösungsvorschlägen und 180-Grad-Wendungen – hat die Operette eine Botschaft: Es könnte alles viel einfacher sein im Leben, wenn die Menschen nur ehrlicher wären und sie nur ein Herz für andere hätten.
Deswegen ist Operette auch Moraltheater.
Aber das wäre ihr zu billig. Und so unterläuft sie gerade diesen moralischen Ernst durch Ironie. Sie stichelt mit dem Florett, ist chaotisch, zynisch, subversiv und anarchisch. Deshalb ist sie auch so lebensnah - und amoralisch.

Das wusste schon Jacques Offenbach, dessen Orpheus, Adorno zufolge, nicht umsonst "unsere Unterwelt in Besitz genommen" hat. Denn diese Unterwelt ist noch immer ein subversiver Ort nicht nur politischer Satire, sondern auch tabuisierter Sexualität. Mit Freudschem Witz wird ihr in der Operette - nach Alfred Polgars Bonmot - der "Sublimierungsprozess" gemacht. Dahinter steht der noch immer utopische Wunsch, "das Leben als leichtes Spiel zu nehmen" - jenseits der Zwänge unseres immer fremdbestimmteren Alltags!

Aus diesen Zwängen auszubrechen, dazu lädt die Operette ein - verführerisch und aufrührerisch zugleich. Ihr Kern ist Freiheit. Ihn freizulegen ist wie die Entdeckung eines Schatzes, den man vor vielen Jahren vergraben hat. Und den man nur polieren muss, damit er wieder so glänzt wie am ersten Tag.
Ach ja: Operette ist keine Kleinausgabe der Oper. So hat sie zwar begonnen, aber längst ist sie erwachsen geworden. Sie ist ein großes, schillerndes, böses, warmherziges, wundervolles und sehr spezielles Musiktheater-Genre.

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