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Die Cellistin Anja Lechner im Gespräch Mit Tönen erzählen

Mit Duos hat Anja Lechner oft aufhorchen lassen: Sie spielte Tango mit dem Bandoneon-Virtuosen Dino Saluzzi, Chansons mit dem Pianisten Peter Ludwig, faszinierende Schubert-Bearbeitungen mit dem Gitarristen Pablo Márquez. Zurzeit findet das Album "Lontano" begeisterte Resonanz, auf der sie mit dem französischen Pianisten François Couturier gemeinsam musiziert. In der "Jazztime" auf BR-KLASSIK ist sie am 29. Januar als Gesprächsgast einer Sendung zu hören, für die sie auch die Musik ausgewählt hat.

Anja Lechner | Bildquelle: Paolo Soriani

Bildquelle: Paolo Soriani

Diese Musik ist eigentlich eine frei schwebende Kunst: Die Töne eines Klaviers und eines Cellos gleiten gemeinsam in unterschiedliche Stimmungen, erkunden improvisierend Klang-Räume. Das kann fast wie romantische Musik klingen, dann wieder beinahe wie atonale Musik des frühen 20. Jahrhunderts, schließlich vielleicht wie eine sehnsuchtstrunkene Kammermusik für einen Film-Soundtrack. Das Wichtigste dabei ist das Wort "fast": Denn diese Musik ist stets etwas Eigenes. Sie benutzt ein reichhaltiges Vokabular zweier Musiker, die jeweils einen weitgefächerten Hintergrund besitzen, und verschmilzt es zu feinsinnigen, ungemein reizvollen Dialogen. Es ist Musik, die voller Schönheit, voller Wehmut, aber auch voller Sehnsucht steckt.

Freie Improvisationen zwischen den Kategorien

"Lontano" heißt fern, weit weg. Obwohl die Musik dafür bereits Ende 2019 aufgenommen wurde, trifft sie in Corona-Zeiten besonders auf einen Nerv. Denn alles Gewohnte, Vertraute, Liebgewonnene im alltäglichen Erleben scheint ganz weit weg zu sein. Eine Interpretation wie diejenige, die Anja Lechner und François Couturier hier von dem traurigen Lied "Alfonsina y el mar" bieten, geht unter die Haut. Das ursprüngliche Lied (hier instrumental gespielt) erzählt vom Freitod der Dichterin Alfonsina Storni, die – schwer erkrankt – 1938 am Strand der Stadt Mar del Plata ins Meer ging. Der Schriftsteller Félix Luna widmete ihr ein Gedicht, das der Komponist Ariel Ramirez vertonte – und das zu einem der bekanntesten lateinamerikanischen Lieder wurde. Dieses Stück zählt zu den Höhepunkten auf "Lontano". Aber in anderen Stücken improvisieren Anja Lechner und François Couturier frei – und überraschen stets mit neuen Facetten ihrer Klangsprache.

Anja Lechner und François Couturier live

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55 Jazzaldia: concierto de Anja Lechner & François Couturier (2020) | Bildquelle: Jazzaldia - Donostia / San Sebastián (via YouTube)

55 Jazzaldia: concierto de Anja Lechner & François Couturier (2020)

Das Problem mit den Schubladen

Das amerikanische Magazin "JazzTimes" nominierte "Lontano" als bestes Album 2020 und Anja Lechner und François Couturier als beste Musiker des Jahres an ihren jeweiligen Instrumenten. Dabei würden beide ihre Musik nicht Jazz nennen, sondern letzten Endes am liebsten ganz auf Kategorien verzichten (was zumindest dem zeitgenössischen Jazz besonders nahe ist). Im Interview mit BR-KLASSIK sagt Anja Lechner: "Das ist so eine Sache mit den Begriffen. Ich habe wirklich ein großes Problem mit Begriffen. Denn: Was ist Jazz, was ist Klassik, was ist Barockmusik? Was ist Neue Musik? Klingt Neue Musik immer neu? Oder bestimmte Alte Musik manchmal sogar neuer als Neue Musik. Für mich ist Musik Musik, ich finde es schade, dass es immer noch so unterschieden wird. Das ist in Amerika zum Beispiel wirklich besser, weil die da offener sind. Klar, die nennen es dann auch Jazz, weil der Jazz wichtig ist für bestimmte Musiker; aber sie sind dann sehr offen. Ich bin froh, wenn wir auch auf Jazzfestivals spielen oder wenn uns jetzt eine Jazz-Zeitung mit nominiert. Ich wundere mich dann manchmal. Aber das heißt ja dann letztendlich: Die Musik ist irgendwie angekommen."

Cello-Spiel als "offenes Fenster"

Offenheit ist ein wichtiges Kennzeichen für diese Musik – und für das Schaffen Anja Lechners allgemein. "Anja Lechners Cello ist ein offenes Fenster, das alle reinen musikalischen Klänge aus allen Ecken der Welt einlädt", sagte etwa der armenische Komponist Tigran Mansurian über sie. Für die Sendung "Jazz Unlimited" hat Anja Lechner neben Stücken aus "Lontano" auch Musik von Johann Sebastian Bach und Franz Schubert ausgewählt – und sie erzählt vom Arbeitsprozess an dem Album. Es war nämlich ursprünglich nicht geplant, dass die überwiegende Mehrzahl der Stücke auf dieser CD freie Improvisationen sind. Das Duo hatte diverse Kompositionen vorbereitet – und dann blieb bei der Produktion im wunderschönen Bremer "Sendesaal" (einst ein Saal von Radio Bremen, der durch umsichtige Menschen vor dem Abriss gerettet wurde) einfach noch Zeit übrig. Diese Zeit nutzten Anja Lechner und François Couturier für spontane Dialoge, oder besser: zu einem spontanen gemeinsamen Anverwandeln an Klang-Ideen.

Musik muss Geschichten erzählen

Anja Lechner | Bildquelle: Giulio Baroccu Anja Lechner | Bildquelle: Giulio Baroccu In Anja Lechners Repertoire gibt es immer wieder Stücke, die eigentlich einen Text haben, also Lieder sind. Lieder mit Worten, die bei ihr und ihren musikalischen Partnern zu Liedern ohne Worte werden. Neben Ariel Ramirez‘ "Alfonsina y el mar" hat sie für die Sendung auf BR-KLASSIK auch "Der Leiermann" ausgewählt, das bittere Schlussstück aus Franz Schuberts "Winterreise". Ein Stück, das sie zusammen mit dem spanischen Gitarristen Pablo Márquez aufgenommen hat. Manchmal wird Anja Lechner von der inhaltlichen Wucht eines Werks auch überrascht: "Musik ist mein Leben. Sie muss einen genauso erreichen, auch wenn man den Text nicht versteht. So ging es mir zum Beispiel mit 'Alfonsina y el mar': Ich wusste überhaupt nicht, worum es da geht, und ich war dann fast ein bisschen geschockt, dass eine so tragische Geschichte dahintersteht. Es braucht einen Inhalt, es muss eine Geschichte sein. Und als Musiker muss man auch eine Geschichte erzählen können."

Beim Hören unterschiedlichster Musik aus mehreren Jahrzehnten, stellt man fest: Anja Lechner kann Geschichten erzählen. Und was sie mit dem Cello sowieso kann, kann sie auch mit Worten – zu hören auf BR-KLASSIK.

Sendung: "Jazztime –Jazz Unlimited" am 29. Januar 2021 ab 23.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Vier Saiten und ein offener Horizont: Die Cellistin Anja Lechner als Gesprächsgast.
Mit Musik von Anja Lechner, François Couturier, Pablo Márquez und anderen.
Musikauswahl: Anja Lechner, Moderation: Roland Spiegel

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