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Zugabe: Warum Dvořák nicht genug bewundert wird Hinter der "Neuen Welt" wartet ein unbekannter Kontinent

Antonín Dvořák wird zwar sehr geliebt, aber nicht genug bewundert. Und geliebt wird er meist nur für eine Handvoll Stücke, die zwar wunderbar, aber nicht alle unbedingt typisch sind – die "Symphonie aus der Neuen Welt" zum Beispiel. BR-KLASSSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff hält ein Plädoyer für die unbekannten Werke eines der bekanntesten Komponisten.

Zugabe: Antonín Dvorák | Bildquelle: picture alliance/Leemage/Montage: BR

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Die "Zugabe" zum Anhören

Ja, natürlich ist die "Symphonie aus der Neuen Welt" ein Meisterwerk, absolut unwiderstehlich, mit gutem Grund eine der meistgespielten Symphonien überhaupt. Und klar, Dvořák ist im Konzertleben nicht nur mit diesem einen Stück präsent, er führt keineswegs das traurige Dasein eines One-Hit-Wonder-Komponisten. Sein Status als einer der ganz Großen ist unbestritten. Doch der Ausschnitt aus seinem Werk, der regelmäßig im Konzert zu hören ist, ist überraschend klein, gemessen an der Größe seines Ruhms.

Ein paar Welthits …

Zehn Opern hat er vollendet, gespielt wird nur eine, "Rusalka". Von den neun Symphonien ist die Neunte ein Welthit, die Achte wird oft gespielt, die Siebte gelegentlich und die sechs anderen fast nie. Ähnlich bei den Solokonzerten: Wieder gibt’s einen Welthit, das Cellokonzert. Das Violinkonzert hört man selten, das Klavierkonzert fast nie. Dasselbe Bild bei den Streichquartetten: das "Amerikanische Quartett" ist ein Dauerbrenner, der Rest wird vernachlässigt. Kein einziges berühmtes Quartett-Ensemble hat sich die Mühe einer Gesamteinspielung gemacht! Woran liegt das?

Wildgenial drauflos experimentiert

Vielleicht einfach daran, dass bei Dvořák die Qualität schwankt? Da ist was dran: Das Frühwerk ist manchmal mühsam. Anders als bei Beethoven, wo schon Opus 1 ein Riesenspaß ist. Von Wunderkindern wie Mozart oder Mendelssohn ganz zu schweigen. Dvořák war eben weitgehend Autodidakt. Er kam vom Dorf, sein Vater war Metzger, er musste sich seinen sozialen Aufstieg hart erarbeiten. Reizvoll und bewundernswert sind die frühen Stücke trotzdem – schließlich hat Dvořák sofort wildgenial drauflos experimentiert. Manche Frühwerke sind einfach umwerfend, großartig und verblüffend in ihrer ausufernden Verrücktheit. Ideen hatte er im Überfluss, nur wusste er zuerst noch nicht immer, wohin damit.

Viele späte Meisterwerke

Wie sich die sprudelnde Fülle der Einfälle am besten in Form bringen lässt, das hat Dvořák im Lauf seines Lebens immer souveräner in den Griff bekommen. Umso weniger versteht man, warum auch so viele späte Meisterwerke von einem der bekanntesten Komponisten so unbekannt sind. Wann hört man das "Requiem" oder die "Biblischen Lieder", die Symphonischen Dichtungen wie "Die Mittagshexe" oder "Das Goldene Spinnrad"? So tolle Musik, so selten gespielt! Dafür muss es noch einen anderen Grund geben.

Die kaum bekannte "Mittagshexe"

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Dvořák: Die Mittagshexe ∙ hr-Sinfonieorchester ∙ Andrés Orozco-Estrada | Bildquelle: hr-Sinfonieorchester – Frankfurt Radio Symphony (via YouTube)

Dvořák: Die Mittagshexe ∙ hr-Sinfonieorchester ∙ Andrés Orozco-Estrada

Fatales Naturburschen-Image

Mein Verdacht: Dvořák wurde ein Stück weit zum Opfer seines eigenen Erfolgs. Der sagenhafte Aufstieg vom Metzgerssohn zum berühmtesten Künstler seines Landes hat ein bestimmtes Image geprägt: Dvořák, der Naturbursche. Der fast unbewusst ganz aus dem unverfälschten Brunnen der Volksmusik schöpft. Ein böhmischer Musikant wie Gott ihn träumt, sehr lieb, ein bisschen naiv und nicht so verkopft wie der strenge Herr Brahms. Vielleicht hat sich Dvořák ein bisschen auch selbst so gesehen. Das Problem ist nur: Es ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Die Folge davon aber: Was nicht zu diesem Naturburschen-Image passt, wird vernachlässigt.

Immer aufs Ganze

Dvořáks Musik ist viel, viel mehr als ein nationalromantisches Volkslied-Potpourri. Sie steht im Dialog mit Händel, Beethoven, Schubert, Brahms, Wagner, Verdi und Tschaikowsky. Seine Musik ist tschechisch – und europäisch. Und manchmal, wenn man es so hören möchte, ein bisschen amerikanisch. Sie ist vor allem leidenschaftlich, wild, unvorhersehbar, trotzdem nie ermüdend. Sie geht in schwindelerregendem Tempo durch die Tonarten. Und sie geht immer aufs Ganze. Sie präsentiert die schönsten Ohrwurm-Melodien gleichzeitig mit den aufregendsten Gegenstimmen. Sie ist unmittelbar und komplex, sie ist superraffiniert und geht sofort in den Körper. Und deshalb liebe ich sie: weil sie so reich ist. Es klingt verrückt: Obwohl Dvořák einer der bekanntesten Komponisten ist, bietet seine Musik ein riesiges Feld lohnender Entdeckungen. Hinter der Neuen Welt wartet ein unbekannter Kontinent!

Sendung: "Allegro" am 26. Februar 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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