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Harry Kupfer "Man muss auf Spurensuche gehen"

Harry Kupfer ist wohl einer der dienstältesten Repräsentanten moderner Opernregie. Nach über 15 Jahren kommt Kupfer zurück an die Bayerische Staatsoper und setzt "Lady Macbeth von Mzensk" neu in Szene. Im Interview mit BR-KLASSIK verrät der 81-jährige Regisseur mehr über den komplizierten Zugang zu Schostakowitschs Oper.

Regisseur Harry Kupfer | Bildquelle: picture-alliance/ ZB

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Regisseur Harry Kupfer

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BR-KLASSIK: Harry Kupfer, die Katerina Ismailowa bringt im Verlauf der Oper mehrere Personen um, und am Schluss auch sich selber. Für die Beteiligten im Stück, vor allem für die Männer, ist sie die allein Schuldige an diesem ganzen Desaster. Von außen betrachtet sind das tragische Morde, oder könnte man aufgrund der Umstände vielleicht sogar sagen: Ist sie eine unschuldige Mörderin?

Harry Kupfer: Man muss das sehr differenziert sehen und die Situation, in der sie steht, bedenken. Russland war beherrscht von Despotie, die sich nach unten bis in die intimste Zelle der Familie verpflanzt hat. In jeder Familie gab es entweder den despotischen Großvater, den despotischen Mann oder die despotische Schwiegermutter. Das kann in der gesamten russischen Literatur und Dramatik verfolgt werden. Sie ist eigentlich das Opfer dieser Leute. Katerina kommt aus einfachen Verhältnissen, hat sich mit der Heirat den Aufstieg und Erfüllung in der Liebe erhofft, weil ihr Mann sie gegen den Willen der Familie geehelicht hat. Allerdings geht die Ehe schief und Katerina wird verdächtigt, an allem schuld zu sein. Die Hauptschuld besteht darin, dass sie keinen Erben geboren hat. Im Grunde genommen hat sie weder in ihrem Leben als Mutter noch als Frau in ihrer Sinnlichkeit Erfüllung erfahren. In dieser Situation gerät sie an Sergei, der ebenfalls nur Karriere machen möchte und über sie in dieses Kaufmannsmilieu aufsteigen will. Da sie aber um jeden Preis um ihre Selbstverwirklichung kämpft, ist ihr jedes Mittel recht. Dazu kommt dann die sexuelle Verwirrung. Und so begeht sie den ersten Mord am Schwiegervater, der ein grausamer Despot ist, der sie persönlich sexuell belästigt und zuvor Sergei halb totgepeitsch hat. Das ist irgendwie noch verständlich. In ihrer Verliebtheit und sexuellen Gier beseitigt sie dann gemeinsam mit Sergei ihren Noch-Ehemann und wird dadurch natürlich absolut schuldig. Aber das Großartige an dieser Frau ist, dass sie es nicht dabei bewenden lässt, sondern sich einfach verhaften lässt und sich zu ihrer Tat bekennt. Sie lässt sich bewusst festnehmen und sagt: "Fesselt mich, ich habe es getan."

Die Gesellschaft sieht die Frau als Objekt.
Harry Kupfer

BR-KLASSIK: Sie haben gesagt, die Gesellschaft ist durch und durch despotisch - und das ist ja ein entscheidendes Problem. Ist sie auch extrem frauenfeindlich, wenn die Frau praktisch nur oder in erster Linie dazu da ist, nachfolgend zu gebären?

Harry Kupfer: Die Gesellschaft ist nicht frauenfeindlich, sondern sie sieht die Frau als Objekt. Sie ist niemals ein Partner, sondern sie wird auch als Mensch nur über die sexuelle Seite und darüber, Kinder zu bekommen, akzeptiert, nichts anderes. Ansonsten ist sie zweiter Klasse.

BR-KLASSIK: Die Musik, die Schostakowitsch komponiert hat, ist sehr krass, teilweise auch sehr apokalyptisch; sie ist natürlich auch pornographisch, um das Sexuelle herauszustellen. Ich finde sie sehr fantasieanregend, beim Hören dieser Musik entstehen im Kopf schon viele Bilder. Ist das für den Regisseur einer Produktion eher hilfreich oder eher schwierig?

Bei Schostakowitsch ist es besonders kompliziert.
Harry Kupfer

Harry Kupfer: Das ist im Grunde genommen nicht nur hilfreich, sondern so muss es sein. Wenn man also ein Stück von dieser Qualität hat, wo Musik und Text manchmal eine dialektische, manchmal eine direkte oder indirekte, manchmal eine kommentierende oder groteske Beziehung haben, dann muss man das entschlüsseln. Dann bekommt man eigentlich einen Hinweis, zumindest eine Idee, wie der Komponist gedacht hat: Dass sich hier zum Beispiel der Charakter offenbart, oder wie sich die Situation darstellt. Das ist hilfreich, aber man muss auf Spurensuche gehen. Das muss ich allerdings bei jeder Partitur dieser Qualität. Und bei Schostakowitsch ist es besonders kompliziert.

Das Interview für BR-KLASSIK führte Annika Täuschel.

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