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Kommentar - Dirigentinnen im Aufwind Risse im Beton

Die klassische Musik gehört zu den rückständigsten Bereichen der Gesellschaft, was Gleichberechtigung angeht. Vor allem die Männer-Monokultur an den Dirigentenpulten ist ein zähes Ärgernis. Doch das Blatt beginnt sich zu wenden.

Dirigentin Simone Young | Bildquelle: Simone Young

Bildquelle: Simone Young

Die schlechte Nachricht ist: Es wird noch dauern, bis wir dieses Thema beiseitelegen können. Die gute Nachricht: Dass sich etwas ändert, ist unaufhaltsam. Schon heute prägen Frauen am Pult einige der besten Orchester der Welt. Aber es sind skandalös wenige. Deshalb muss man, wenn man eigentlich nur über ihre großartigen künstlerischen Leistungen sprechen möchte, noch immer dazu sagen, dass sie als Frauen in diesem Job eine extrem seltene Ausnahme sind. Dass das nötig ist, ist beschämend. Viele Dirigentinnen sind extrem genervt, weil sie ständig auf ihr Geschlecht angesprochen werden. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Aber es hilft ja nichts: Wir müssen drüber reden, sonst wird sich nichts ändern.

Extrembeispiel aus Wien

Im Jahr 2019 ist es zwar nicht mehr komplett utopisch, aber immer noch eine in weiter Zukunft liegende Vision, dass mal eine Frau das Wiener Neujahrskonzert dirigiert. Das hat viele Gründe. Der wichtigste ist der ärgerlichste: Die klassische Musik ist in Sachen Gleichstellung ein besonders rückständiger Bereich unserer Gesellschaft. Dabei hat sich in den Orchestern viel bewegt. Selbst in der hartnäckigsten Bastion, dem langjährigen Männerbund namens Wiener Philharmoniker, sind ja Frauen dabei. Seit 1997. Man verdreht die Augen bei dieser Jahreszahl. Aber die Wiener, die ihren Frauenanteil natürlich nur Schrittchen für Schrittchen erhöhen können, sind zum Glück ein untypisches Extrembeispiel.

Rollenbilder sind prägend

Wer einen Blick in die Zukunft werfen will, muss sich nur die Zusammensetzung der Jugendorchester ansehen. An den Geigenpulten im Bundesjugendorchester etwa sind die Jungs klar in der Minderheit: Knapp ein Viertel. Beim Kontrabass ist es umgekehrt: Dreiviertel sind Männer. Und die Trompeten sind ausnahmslos in Männerhand. Gut, beim Kontrabass mag Körpergröße ein gewisser Vorteil sein. Aber damit lassen sich solche Muster nicht wirklich erklären. Dass die Trompete nach wie vor ein ausgesprochenes Jungs-Instrument ist, hat nichts mit der Biologie zu tun, sondern liegt schlicht an unseren Rollenbildern.

Dirigieren ist ein Langstreckenlauf

Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla | Bildquelle: Nancy Horowitz Mirga Gražinytė-Tyla | Bildquelle: Nancy Horowitz Was sagt uns das für das Thema Frauen am Pult? Damit sich die krasse Männer-Monokultur in einem künstlerischen Beruf ändert, brauchen junge Frauen nicht nur Mut, sondern auch eine Umgebung, die sie ermutigt. Und natürlich erfolgreiche Vorbilder. Die gibt es jetzt endlich: Simone Young, Marin Alsop, Mirga Gražinytė-Tyla , Susanna Mälkki, Oksana Lyniv. Das wird den Prozess hoffentlich beschleunigen. Aber dieser Beruf ist ein Langstreckenlauf. Dirigenteninnen und Dirigenten sind mit 50 deutlich besser als mit 25. Und es gibt erstaunlich viele, die sogar mit 80 besser sind als mit 60. Auch wenn das längst nicht auf sämtliche älteren Herren am Pult zutrifft, von denen das behauptet wird. Das heißt: Die heutigen Verhältnisse an der Spitze bilden Rollenbilder ab, die junge Menschen vor 30 oder 50 Jahren geprägt haben. Und das heißt auch: Die Zeit arbeitet für die Frauen.

Das Individuum zählt

Bis sich die Frauen nach oben gearbeitet haben, sind drei Dinge wichtig. Erstens: Es braucht mehr Stardirigenten, die begabte Frauen so gezielt fördern wie beispielsweise Kirill Petrenko. Zweitens: Die Beweislast hat sich mittlerweile umgekehrt. Kein Orchestervorstand und kein Intendant kann sich länger damit herausreden, man würde ja gerne, es gäbe aber keine. Wer das immer noch behauptet, hat seine professionellen Hausaufgaben nicht gemacht. Drittens: Nichts wäre dümmer, als sich die Ohren verstopfen zu lassen. Frauen brauchen selbstverständlich keinen Bonus, und Quoten sind in künstlerischen Berufen kein Weg. Denn: Das Individuum zählt. Das, was an jeder Dirigentin, an jedem Dirigenten unverwechselbar, nicht austauschbar ist. Der Grund dafür, dass sie oder er da vorne steht, ist letztlich immer ganz individuell – sollte es jedenfalls sein. Dirigieren ist mehr als nur Handwerk. Deswegen muss jede Dirigentin in ihrer unverwechselbaren Individualität wahrgenommen werden. So gesehen verbindet Simone Young und Mirga Gražinytė-Tyla herzlich wenig: Die eine, Simone Young, bevorzugt einen dicken, dunklen, traditionalistischen Klang, die andere, Mirga Gražinytė-Tyla, einen schlanken, geschärften, der vertraute Werke neu und aufregend klingen lässt. Ich persönlich freue mich schon sehr auf die Zeit, in der wir endlich nur noch über solche Fragen sprechen, wenn diese beiden Namen fallen. Das wird noch dauern. Aber der Tag wird kommen. Das lässt sich schon längst nicht mehr aufhalten.

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