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Eva Gesine Baur über Perfektion Zeige deine Wunde

Weltweit gebe es ganze Bataillone von musikalischen Perfektionisten, deren Outfit so makellos durchdacht sei wie ihre Beethoveninterpretation, schreibt Eva Gesine Baur in der Februar-Ausgabe ihrer Kolumne für BR-KLASSIK. Nur - es fehle das Menschliche.

Eva Gesine Baur | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Eine berühmt-berüchtigte Sängerin als Kinoheldin

Szene mit Marguerite (Catherine Frot) und ihrem Diener Madelbos (Denis Mpunga) aus dem Film "Madame Marguerite oder: Die Kunst der schiefen Töne" | Bildquelle: 2015 Concorde Filmverleih GmbH/ Larry Horricks Cathérine Frot in "Madame Marguerite und die Kunst der schiefen Töne" | Bildquelle: 2015 Concorde Filmverleih GmbH/ Larry Horricks Spitzenköche haben wenig Zeit. Ins Kino gehen die meisten sehr selten. Und wenn, dann wohl kaum in einen Film, der eine Sängerin feiert, die so gut wie keinen Ton trifft. Doch als ich Anfang Februar las, dass mit nur 44 Jahren Benoît Violier im schweizerischen Crissier gestorben war, auf vielen Listen als der beste Koch der Welt geführt, sah ich nach, ob der Film Marguerite kurz vor seinem Tod irgendwo in der Nähe von Crissier im Kino lief. Er hätte ihn sehen sollen. Die historische Person, auf der die Filmidee basiert, war mir schon als Schülerin bekannt und die Einspielung mit ihren Live-Auftritten hütete ich: Florence Foster Jenkins, eine Millionärin aus Pennsylvania. Auf ihrem Grabstein steht ihr Lebensmotto: "People may say, I couldn’t sing. But nobody could say, I didn’t sing." Damals und in dem Äon danach fanden selbst Freunde meine Vorliebe abwegig, für diese Königin der musikalischen Nacht, deren Trefferquote, was Tonhöhe, Tondauer und Rhythmus anging, einem Nuller im Lotto entsprach. Dass ihre Zeitgenossen Wucherpreise bezahlt hatten, um sie in der Carnegie-Hall zu erleben? Comedy von gestern. 
Derzeit steigt die Amerikanerin posthum zum Weltstar auf. Seit November 2015 füllt sie schon die Kinos, unter anderem Namen und in anderen Verhältnissen, als Baronin Marguerite Dumont im Film von Xavier Giannoli, Madame Marguerite und die Kunst der schiefen Töne. Cathérine Frot in der Titelpartie eroberte Publikum, Charts und Preise. Nun, 2016, wird ein biographischer Film von Stephen Frears über die Hörnervensäge, dargestellt von Meryl Streep, in die Kinos kommen. Und außerdem ein Dokumentarfilm von Ralf Pfleger, in dem Joyce DiDonato die Meisterin des Danebensingens verkörpern wird - ihr Filmdebüt. Madame Marguerite erntete keineswegs nur entsetzte Lacher; sie rührte und bewegte. Ihren Nachfolgerinnen wird es nicht schlechter ergehen. Woher auf einmal die Empathie für das musikalische Scheitern, für das absolute Gegenteil von Perfektion? Und das ausgerechnet jetzt, wo es doch weltweit ganze Bataillone von musikalischen Perfektionisten gibt, deren Outfit so makellos durchdacht ist wie ihre Beethoveninterpretation und deren Haar ebenso sicher sitzt wie jeder Ton auf Klavier oder Geige. Sie machen uns sprachlos, diese jungen, schönen, technisch und ästhetisch unangreifbaren Sänger wie Instrumentalisten, an denen jeder Kritiker abrutscht. Wirklich sprachlos, denn erzählen lässt sich vom Konzerterlebnis nachher wenig.

Im Konzert ist es mir gleich, ob ich fünf falsche Töne spiele. Was kümmern sich die Menschen darum?
Pianist Vladimir Horowitz

Vladimir Horowitz | Bildquelle: wikimedia commons "Falsche Töne sind menschlich": Pianist Vladimir Horowitz | Bildquelle: wikimedia commons Zugegeben: einen Abend lang ruhig dazusitzen, während ein Sänger Töne nur approximativ trifft, ist quälend, denn die geschundene Musik weint. Es tut auch weh, wenn ein Pianist große Teile einer Sonate unter den Flügel fallen lässt. Und es tut umgekehrt sehr gut, sich entspannen zu können, weil man merkt: Da vorne sitzt oder steht jemand, der kann’s. Die wegen ihrer Perfektion gerühmten Virtuosen lassen aber immer öfter das Publikum kalt. Das ist Horowitz noch mit 80 Jahren nicht passiert. Im Konzert ist es mir gleich, ob ich fünf falsche Töne spiele. Was kümmern sich die Menschen darum? sagte er. Sie wollen die Musik. Irren ist menschlich. Falsche Töne sind menschlich. Nicht-Irren ist unmenschlich, dem Menschen nicht gemäß. Dass uns das nun dramatisch bewusst wird, hat Gründe. Die virtuellen Techniken ermöglichen die absolute Perfektionierung. Programme wie Photoshop und digitale Aufnahmetechniken schaffen vollkommene Pseudo-Wirklichkeiten. Das Perfekte kennt keine Brüche, keine Macken, keine Gebrauchs- oder Alterungsspuren. Es sagt nichts als: Bin ich nicht perfekt? Nach Meinung vieler Kollegen, die ihn bewundern, konnte Alfred Brendel niemals mühelos Klavier spielen. Genau deswegen, meinen sie, habe er die Menschen mit seinem Schubert oder Mozart so tief berührt. Er hat sie sich erkämpft und er erzählte, wenn er spielte, auch davon.
Als ich im Gasteig meinen Roman über den Pianisten Paul Wittgenstein vorstellte, der im Ersten Weltkrieg seine rechten Arm verlor, bot ich an, zum Schluss das von ihm in Auftrag gegebene Konzert für die linke Hand von Ravel zu hören, von ihm selbst gespielt. Fehlerhaft, was jedem sofort auffallen musste, der aktuelle Einspielungen kannte. Wer wolle, möge gehen, bat ich. Niemand ging.

Starkes Scheitern

Die Uraufführung der Auftragsoper South Pole im Münchner Nationaltheater über den Wettkampf zwischen Roald Amundsen und Robert Scott in der Antarktis wurde gerade zu einem einhelligen Überraschungserfolg, nicht nur für den tschechischen Komponisten Miroslav Srnka, auch für den Sänger des Verlierers Scott. Er ging an seine Grenzen, überschritt sie sogar einige Male und war hörbar stimmlich überfordert, also oft kaum hörbar. Und trotzdem erntete Rolando Villazon mindestens eben so viel Beifall wie sein Gegenspieler, der vollendet singende Thomas Hampson. Der scheiternde Scott, der auch stimmlich beinahe scheitert? Das klingt banal und das wäre es, hätte Villazon es gewollt. Dann wäre es wie der shabby chic der Möbelproduktion nur künstliche Patina, eine Masche, nicht mehr. Doch er strebte es an, vollendet zu singen, nur nicht auf Kosten des Ausdrucks. Auch Cathérine Frot machte in der Rolle von Florence Foster Jenkins deutlich, warum sie singen wollte: Es ging ihr darum, etwas zu sagen, was sie sonst nicht sagen konnte oder zu sagen wagte. Sogar Florence Foster Jenkins träumte von vollendetem Gesang, wenngleich sie Lichtjahre davon entfernt war. Die Sehnsucht nach Vollendung und die Bereitschaft, dafür hart zu arbeiten, ist musikalisches Handwerk. Kunst fängt da an, wo das Bedürfnis, zu berühren, stärker ist als das, unangreifbar zu sein. Zeige deine Wunde, heißt eines der größten Werke von Joseph Beuys. Nur wer sie zeigt, kann Empathie ernten.

Er ist an seiner Perfektion zerbrochen.
Spitzenköchin Meta Hildebrand über ihren verstorbenen Kollegen Benoît Violier

Der Koch Benoît Violier hat sich das Leben genommen. Seine prominente Zürcher Kollegin Meta Hildebrand sagte: "Er ist an seiner Perfektion zerbrochen." Seine Gäste hätten es ahnen können, aber das hätte ihnen den Appetit verschlagen. Wir ahnen auch, was in den Musikschulen von Seoul und anderen Städten Südkoreas oder Chinas tagtäglich geschieht und wie groß der Anteil Bruch ist, von dem das perfekte Exportgut nichts erzählt.
Der Film Marguerite lief übrigens in den letzten Tagen von Benoît Violier ganz in seiner Nähe.

Die Autorin

Eva Gesine Baur studierte Literaturwissenschaft, Psychologie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaften. Sie hat zahlreiche Bücher über kulturgeschichtliche Themen und unter dem Namen Lea Singer mehrere Romane veröffentlicht. 2010 wurde ihr der Hannelore-Greve-Literaturpreis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur verliehen.
Werke (Auswahl):

  • Mozart - Genius und Eros (Biographie, C.H. Beck)
  • Emanuel Schikaneder - Der Mann für Mozart (Biographie, C.H. Beck)
  • Anatomie der Wolken (als Lea Singer, Roman, Hoffmann und Campe)
  • Konzert für die linke Hand (als Lea Singer, Romanbiographie über Paul Wittgenstein, dtv)

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