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Kolumne - Bachs h-moll-Messe Ganz meine Musik

Am Freitag wird das handschriftliche Manuskript von Bachs Messe in h-Moll in Berlin als Welt-Dokumenterbe ausgezeichnet. Bachs Kompositionskunst erlebt unser Kolumnist Laszlo Molnar wie die Präzisionsarbeit eines Raumfahrtingenieurs - so genial schickt Bach seine Hörer mit musikalischem Raketenantrieb in höhere Sphären.

Eine Seite des Faksimile der h-Moll-Messe von J.S. Bach | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Seit ich denken kann, ist diese wunderbare Partitur für mich ein Teil der Welt. Sie ist für mich so, als sei sie schon immer da gewesen. Nicht von einem Menschen erschaffen, sondern durch Raum und Zeit auf uns gekommen, auf jeden Menschen, der geboren wird, weil es sie schon immer gab. Bachs h-Moll-Messe ist für mich ein Teil der Schöpfung, den Menschen mitgegeben auf ihren irdischen Weg als Erinnerung daran, dass sie, nach unserem Verständnis, nicht nur Fleisch, sondern vor allem Geist sind. Dieses „Credo in unum Deum“, das Bach so einzigartig und nie mehr erreicht vertont hat, gilt für mich dabei nicht nur für den Gott der Christenheit. In allen Kulturen auf dieser Welt glaubt man an einen Gott oder an etwas Göttliches. Die h-Moll-Messe ist die christliche Tonwerdung schlechthin dieses Glaubens. Keine andere Messkomposition ist so tiefgründig, so vielschichtig, so umfassend. Bach stellte das gewaltige Werk Mitte des 18. Jahrhunderts aus den besten seiner eigenen Kompositionen zusammen – sie ist seither die längste Messvertonung geblieben.

Wie die Luft zum Atmen

Komponist Johann Sebastian Bach | Bildquelle: picture-alliance/dpa Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Ich kenne kaum einen Moment, an dem ich nicht an ein Motiv der h-Moll-Messe denken würde. Sie hat mich nun seit Jahrzehnten begleitet und ist für mich jeden Tag neu. Ihre Motive tauchen in meinen Gedanken auf wie aus dem Nichts. Ich denke mehr an diese Musik Bachs als etwa daran, was ich heute, morgen, am Wochenende essen werde. Damit will ich sagen: Diese Musik zu hören ist für mich so natürlich wie atmen, essen und trinken. Sie kommt mir vor, als sei ich mit ihr geboren worden und als hätten sich meine Zellen sich mit ihr vermehrt. Als sei der genetische Code der Zellen der mathematische der Musik Bachs. Irgendetwas tickt da synchron – von Bachs Musik, speziell von der h-Moll-Messe, fühle ich mich angestoßen, in Gang gebracht. Etliche Sängerinnen und Sänger haben Alben herausgebracht mit Titeln wie „Songs my mother taught me“. Hat mir meine Mutter etwa die h-Moll-Messe vorgesungen?

Der h-moll-Messe ganz nahe kommen

Während meiner Studienzeit habe ich im Chor gesungen. Leider nie die h-Moll-Messe. Nun singe ich in einem Münchner Chor. Wir proben die h-Moll-Messe. Zum ersten Mal komme ich ihr ganz nahe, und sie kommt mir auch nahe. Welch eine Herausforderung! Wer sich durch das Werk durchsingen muss, der könnte sie für ein schieres Konstrukt halten. Das ist Musik in ihren Elementarteilchen: Tonhöhen Intervalle, Notenwerte, Harmonien. Für den Chor nichts, das man als „Melodie“ bezeichnen könnte. Motive sind das größte Entgegenkommen Bachs an seine Musiker. Er war Purist. Aber was für einer. Den Newton der Musik nannte ihn der Forscher Christoph Wolff in seiner so wunderbar lesbaren Biographie. Den Entdecker und Begründer dessen, was unsere Musik im Innersten zusammenhält. Klavierstudenten erfahren das im „Wohltemperierten Klavier“. Der Chorsänger in der h-Moll-Messe.

Stets bin ich ergriffen von den innigen Partien der h-Moll-Messe, den beiden Kyries, dem Qui tollis, dem Et incarnatus est und dem Cruzifixus. Da führt uns Bach wie selbstverständlich in die tiefsten Regionen unseres Bewusstseins. Ruhig, fest wie ein „guardian“ – Begleiter, Wächter, Helfer wären deutsche Worte dafür – der uns den Weg weist und uns dort hält.

Die Rakete zur Himmelfahrt

Was mich dann aber gänzlich durchdringt und körperlich packt, das ist der Jubel, den Bach  immer wieder los- und hochschießen lässt. Meine Güte, was für Explosionen. Wo in den stillen Passagen eine meditative Einkehr für den Kopf herrscht, da reißt Bach in der Freude den ganzen Menschen mit. Eine Rakete direkt zur Himmelfahrt. So kommt mir seine Jubel-Musik vor, das Gloria, das Cum sancto spiritu, das Et resurrexit sowieso: als perfekt geplante Zündung mehrstufiger Raketen. Das Et resurrexit - die Auferstehung nach der Grablegung - ereignet sich in einem Dreiklang, in meiner Stimme Bass innerhalb einer Oktave. Aber wie sich das anfühlt, was in den Noten so schlicht und klar aussieht! Gerade noch musste ich in düsteren Halbtonschritten davon singen, wie der Erlöser der Christenheit gekreuzigt wurde, starb und beerdigt wurde. In ganz tiefer Lage ruht der Akkord in sich. Da zündet Chefingenieur Bach unvermittelt seine Treibsätze, quasi ohne Vorwarnung, mit vollem Feuerzauber. Alle müssen sofort ran, die Sängerinnen und Sänger, das Orchester. Das fährt wie ein Schlag durch die Glieder.

Johann Sebastian Bach | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Video: "Et resurrexit" aus der Messe in h-Moll

Der Chor des BR und Concerto Köln

Eine Seite des Faksimile der h-Moll-Messe von J.S. Bach | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jetzt Welt-Dokumentenerbe: Die handschriftliche Partitur zu Bachs Messe in h-moll | Bildquelle: picture-alliance/dpa Der Akkord bricht sich rasant und Stufe für Stufe Bahn, schießt durch den ganzen Körper und aus mir heraus  Als Sänger bin ich an der Bass-Basis, über mir jubilieren die Sopranistinnen mit Triolen und dazu prasselt das Feuerwerk der Pauken und Trompeten (das denke ich mir, aus langer Hörerfahrung und  in Vorfreude auf die Aufführung, schon in der Klavierprobe dazu),– diese Mischung aus dem Schub von unten und der Brillanz da oben ist es, die mich mitreißt, auf die Füße bringen will,  als würde auch ich gleich mit auferstehen (wie immer sich das anfühlen mag…). So geht es gerade weiter. Bach lässt nicht locker, das zeigt schon das Bild der Noten: Immer mehr werden es, die Achtel in Sechzehntel geteilt, in den Triolen mit extra-Energie geladen, eine Girlande des Jubels, als Text nur noch Laute, weil Worte hier eh versagen. Sängerinnen und Sänger in einem Taumel verzückter Ekstase. Das „Resurrexit“ können wir gar nicht oft genug von uns geben.

Bachs Musik: Grandios und gnadenlos

Das ist ebenso grandios wie gnadenlos komponiert. Wie oft musst das geprobt werden, bis die Intervalle stimmen und alles ineinandergreift. Wir müssen uns durchbeißen, Frustrationen aushalten. Da gibt es nicht wenige Härten, denn Bach nahm auf seine Choristen keine Rücksicht. Gerade die h-Moll-Messe erscheint mir wie ein Konzert für Singstimmen. Alles ist so gesetzt, dass der Kontrapunkt stimmt und die Gesamtwirkung maximal ist. Siehe die Rakete zur Auferstehung. Ob das wirklich gut singbar ist, darum hat Bach sich wenig gekümmert. Auf den ersten Blick ist meine Stimme ein Wald von manchmal wirklich haarigen Intervallsprüngen. Das zu hören ist phantastisch. Sich da durchzusingen: das fordert höchste Konzentration. Nun glaube ich verstehen zu können, warum Bach sich immer wieder so heftig über seine Sänger im Thomanerchor geärgert hat. Es waren nicht nur zu wenige, wie er es dem Leipziger Stadtrat gegenüber stets beklagte. Die Jungs waren bestimmt auch überfordert von Bachs Satzkünsten und mussten sich plagen, alles sauber zu singen. An vielen Teilen der über gut dreißig Jahre hinweg entstandenen h-Moll-Messe hatten sie sich abarbeiten müssen – aber Bach wich nicht ab von seinem Kurs.

Wenn ich jetzt als Sänger diese Noten vor mir habe, dann denke ich bei aller Arbeit auch daran, wie Bach selbst daran gearbeitet hat. Wie er die Stücke aus seinem Schaffen wählte, um sie zu seinem „Opus summum“ zusammenzustellen. Ich kenne alle Kantatensätze, auf den denen die Chöre der h-Moll-Messe fußen. Es sind welche aus Bachs frühen Tagen dabei. Er befand sie für so gut, dass er sie hier, am Ende seines Lebens, wieder aufnahm. Bach formte sie so um, dass sie völlig zeitlos, für immer gültig wurden. So, als seien sie schon immer da gewesen.

Kommentare (1)

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Freitag, 27.Oktober, 19:37 Uhr

Maria L. Ulmicher

H-Moll Messe

Ihr Artikel hat mich sehr berührt. Vielen Dank. Sie haben mir aus der Seele gesprochen. Auch ich hatte das Glück vor einigen Jahren die H-Moll Messe mitsingen zu dürfen. Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und eine unvergessliche Aufführung.
Maria L. Ulmicher

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