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Kommentar: Russische Kultur auf dem Prüfstand Gergiev ≠ Tschaikowsky ≠ Putin

Mit dem russischen Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker ging es los: Der bekennende Putin-Freund Valery Gergiev wurde Knall auf Fall entlassen, weil er sich fünf Tage nach Kriegsbeginn nicht mit einem Statement von Putins Krieg gegen die Ukraine distanziert hat. Mittlerweile kommt es immer wieder vor, dass von russischen Künstlerinnen und Künstler eine eindeutige pro-ukrainische und anti-russische Haltung erwartet wird.

Mittlerweile unerwünscht: Anna Netrebko und Valery Gergiev, hier bei einer Verdi-Gala im Mariinsky-Theater | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Keiner in München muss Valery Gergiev eine Träne nachweinen. Er war bei den Philharmonikern ein Drive-through-Chef: Kam, winkte das Konzert durch und verschwand im dunkelgrünen Bentley zum Privatjet und dann… prestissimo heim ins tip-top renovierte Mariinsky-Theater, das Präsident Putin seinem Hofkapellmeister finanziert hat. Haben alle so akzeptiert, schließlich schmückt ein klangvoller Name wie der von Valery Gergiev.

Gergiev begrüßt die Annexion der Krim, der Münchner OB hält ihn für einen Glücksfall

Dass der Mann 2014 die völkerrechtswidrige Annexion der Krim begrüßte, dass er Propagandakonzerte für Putins Kriege machte – das rief damals immerhin ein Stirnrunzeln hervor. Aber dabei blieb es auch. Man schaute weg, die Grünen moserten zwar, dafür nannte ihn der OB einen Glücksfall und jetzt – ist er weg vom West-Fenster, der Pultstar, weil er nicht bereit war, Stellung zu beziehen gegen den russischen Angriffskrieg. Gergiev kann sich das leisten und für den Bentley findet sich in München sicher anderweitig Verwendung. Wenn das Benzin wieder billiger wird.

Auf westlichen Bühnen ebenso unerwünscht wie Gergiev: Anna Netrebko

Der Fall Anna Netrebko lässt sich ähnlich zusammenfassen, mit dem kleinen Unterschied: Netrebko hat sich immerhin öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen, nicht jedoch gegen Putin. Also fliegt auch die Primadonna überall raus beziehungsweise sie macht mehr oder weniger freiwillig eine Fliege: Netrebko begründet das damit, dass jetzt keine Zeit für Musik sei. Darin irrt sich die Wahlwienerin und Supersopranistin gründlich, was die vielen Benefizkonzerte für die Ukraine beweisen. Vielleicht haben wir da ja eine große Chance vertan und man hätte Anna Netrebko einfach zu Wohltätigkeitskonzerten einladen sollen. Als unpolitische Künstlerin für ein Glas Milch und ein Butterbrot gegen den Krieg ansingen. Zu spät. Die Tür ist zugeknallt, die Russin Netrebko kommt vorerst nicht mal durch die Katzenklappe wieder rein.

Gerät langsam alles Russische in Verruf?

Währenddessen rümpft man an immer mehr Orten die Nase bei Russischem, auch wenn es da anders als bei Valery Abissalowitsch Gergiev und Anna Jurjewna Netrebko gar keine öffentliche Begeisterung für Putin gab. An der Universität Mailand verabschiedet man sich klammheimlich von Vorlesungen über Dostojewski. In Cardiff schmeißt man Musik von Tschaikowsky aus dem Konzert-Programm. Beim Bayerischen Staatsballett rumpelt es heftig aus dem Trainingssaal, weil Ballettchef Igor Zelensky – ja was eigentlich? Als junger Tänzer mit Gergiev gearbeitet hat? Oder weil er Russe ist?

Dostojewski und Tschaikowsky auf dem Prüfstand? Ein völliger Unsinn

Der Krieg macht uns hilflos. Die Kaltblütigkeit von Kriegstreiber Putin erschüttert uns. Und weil wir uns machtlos fühlen, sehnen sich manche wenigstens nach einer moralisch sauberen Kunst. Also wird offenbar gerade alles Russische auf den Prüfstand gestellt. Bei Dostojewski und Tschaikowsky völliger Unsinn, die haben nie ein Gazprom-T-Shirt im Schrank gehabt. Bei russischen Künstlerinnen und Künstlern kann es gefährlich sein – wie gesagt, wir sprechen nicht vom Hofkapellmeister und der russischen Nachtigall. Teodor Currentzis, was ist eigentlich mit dem? Wird der wieder nach Sibirien geschickt zum arbeiten, weil er auch Grieche ist? Die Sängerin Olga Peretyatko? Auch Russin. Was ist mit der russischen Gattin eines berühmten argentinisch-israelischen Dirigenten, die in Moskau in der Jury beim "Nußknacker"-Talentwettbewerb sitzt? Halt. Stop! Vielleicht fassen wir uns mal an die eigene Nase….. wie in Gogols fantastischer Erzählung.

Dieser Bekenntniszwang wird den Krieg nicht beenden. Vielmehr wird mit Cancel Russians ein weiterer Kriegsschauplatz eröffnet.
Sylvia Schreiber über die neue Skepsis gegenüber russischer Kunst

Es zeugt von Zynismus, von Künstlerinnen und Künstlern ein Anti-Putin-Statement einzufordern, nur weil sie russisch sind, wenn in Russland Tausende gegen den Krieg demonstrierende Menschen verhaftet werden. Dieser Bekenntniszwang wird den Krieg nicht beenden. Vielmehr wird mit "Cancel Russians" ein weiterer Kriegsschauplatz eröffnet: im Netz, im Konzert, in der Oper, im Buchladen, im Orchestergraben, an der Universität. Damit jedoch können wir nur verlieren – denn damit verlieren wir unsere geistige Freiheit.

Sendung: "Allegro" am 11. März 2022 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (12)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.

Donnerstag, 17.März, 13:45 Uhr

Jürgen Borchers

Zweierlei Mass : während des 2. Weltkriegs und danach : wurden Hitlertreue wie Karl Böhm, Eugen Jochum, Karajan, Furtwängler u.a.
verachtet ? Aber nein. Jetzt herrscht Dummheit vor !
Jürgen Borchers.

Dienstag, 15.März, 21:12 Uhr

Dr. Blumenthal

Kriegsschauplatz? Übers Ziel hinaus geschossen.

Russ. Künstler und Ukrainekrieg: Wohlgemerkt: Es ist kein Bürgerkrieg, es sind keine verschiedenen Anschauungen, die hier eskalieren und die man "vertreten könne", es ist schamlosestes Abschlachten von unschuldigen Menschen, weil jemand mit seinem Reich und mit der Freiheit eines benachbarten ungeschützten Landes nicht zufrieden ist. Die gesamte Welt steht am Abgrund! Und Frau Sylvia Schreiber sorgt sich über "Anti- Putin- Statements" und über "einen weiteren Kriegsschauplatz" (echt jetzt? Krieg weil man russ. Künstler fragt? Gehts noch größer, Frau Schreiber?), das man von Menschen, von Künstlern einfordert? Haben wir nicht andere Probleme? Muss es nicht viel mehr heißen: Die ganze Welt muss mit Herz dagegen aufstehen - gerade auf der Bühne! Alle anderen sollen einfach schweigen... mit Verlaub, brauchen wir in dieser Weltlage wirklich jetzt billiges Aufgestachele selbst in der Kultur?

Dienstag, 15.März, 14:00 Uhr

Ich

Auch die KünstlerInnen haben Familien

Wir handeln sehr unüberlegt, sogar chovinistisch , diktatur ist das auch was passiert…
Denkt keiner das auch Ana Netrebko u.Ä. Familien in Russland haben die in Gefahr sind?
Und was Russische Kultur betrifft?… Skandalös, was wir machen.
Man hat sogar Wagner überall gespielt während des WW2…
Überall ist irgendeine Diktatur. Shame on us!

Dienstag, 15.März, 13:58 Uhr

Florestan Eusebius

Frau Syvia Schreiber...

Der letzte Absatz, Frau Schreiber... puh, da kommt ja einiges durcheinander bei Ihnen. Zynismus? Sie stellen dar, als ob man so etwas wie eine "sexuelle Gesinnung" von den "armen russ. Künstlern" einfordern würde. Hier geht es aber um Krieg und nicht um eine "Gesinnung". Ein weiterer "Kriegsschauplatz"? Anders herum ...Wer russ. Propaganda hier weiter verbreiten möchte (z.B. "die Krim war noch nie ukrainisch...", "Nato ist Schuld..."), gerade in der Kunst, ja der möchte auch in der kulturellen Elite ebenso die Spaltung (weiterer "Kriegsschauplatz") erreichen. "Verlieren die Freiheit", schreiben Sie: Die Freiheit wird in der Ukraine in Grund und Boden gestampft und wer sich dagegen nicht positioniert oder gar relativiert, ob Russe, Serbe, Deutscher, Italiener usw. der tritt diese Freiheit, gerade auch als Künstler. Die Freiheit haben wir gerade in der Kultur zu verteidigen und nicht die Menschen, die vllt. schön singen, aber die das mit der Freiheit der Ukraine anders sehen.

Dienstag, 15.März, 08:26 Uhr

Stuart Dean

Cardiff und Tschaikowski

Tatsache: In Cardiff hat ein Laienorchester (Cardiff Philharmonic) beschlossen, die Ouvertüre 1812 nicht zu spielen, weil damit ein russischer militärischer Sieg mit Kanonen gefeiert wird - eine vernünftige Entscheidung in der aktuellen Situation. Sie spielen später in der Saison russische Werke. Aber hier wird diese Aktion pauschal falsch zitiert.

Montag, 14.März, 20:20 Uhr

GabrielZ

Krieg

Von Zynismus zu sprechen ist sehr zynisch, wenn 1000e Soldaten und Zivilisten derweilen sterben. Ich habe kein Mitleid mit Künstlern, die das töten nicht verurteilen. Ihre Einschränkungen stehen in keinem Verhältnis zu denen der unschuldigen Opfer. Ich bewunderte die Künstler auch, aber jetzt kann ich auf sie verzichten.

Montag, 14.März, 18:57 Uhr

Ludwig Fun

Gesinnung- Meinung?

Da findet in Europa einer der barbarischten Kriege statt und manche schreiben tatsächlich, es dürfe eine "andere Meinung" auch unter Künstlern geben und bringen dann noch die Causa Reiter als Whataboutismus ewig ins Gespräch. Unfassbar! Nein, das ist keine "Meinung" - dieser Krieg ist mit Nichts, rein gar Nichts, zu rechtfertigen! Und ich erwarte gerade unter Künstlern, ob Russe, Deutscher, oder sonst wem, der öffentlich sich präsentiert, dass von ihm dieses Verbrechen geächtet wird. Alles andere hat in der Kunst NICHTS verloren, wenn man die Kunst nicht ad absurdum führen möchte. Kunst ist kein GEschäftsmodell! Ich verstehe, dass russ. Künstler Zwänge mit ihren Familien haben, doch irgendwie müssen sie sich positionieren oder sich auch entscheiden (was ich genauso verstehen könnte). Die Vorzüge des Westens genießen und klammheimlich bei derartiger Barbarei wegsehen, das kenn ich nur aus der Wirtschaft, aber nicht aus der Kultur!

Montag, 14.März, 15:07 Uhr

Mette L.

Russen- Bashing in der Kultur?

Ist das wirklich so, dass russ. Kunst gebannt wird? Müssen wir dieses Thema wirklich so durchkauen? Einen Tschaikowski vom Spielplan zu nehmen, ist nüchtern betrachtet natürlich Kokolores. Ich kann das nicht richtig nachvollziehen. Aber: Ja, in der Kunst ist es eben ein sehr sensibles Feld. Mir dreht es den Magen herum, wenn sich ein Künstler auf der Bühne produziert und etwas z.B. von "Brüderlichkeit", "sanfter Flügel" trällert und im Privaten mit Putin sympathisiert, der Menschen barbarisch morden lässt. Sollen wir uns auf den Bühnen menschliche Hüllen ansehen, die im schönsten Belcanto zwar unsere Opernkassen füllen, aber von Ehrlichkeit eben nichts mehr übrig haben? Wir erleben schließlich alle das Schlimmste: Krieg! Mich bewegt es, wenn der RUSSISCHE Solo- Bratscher mit Frau Mutter heulend das Benefizkonzert spielt, da er das Menschlichste zeigt und wir in der Kunst unsere innerste Seele, das, was uns ausmacht, gemeinschaftlich wieder erfahren- ein Zeichen gegen die Barbarei!

Montag, 14.März, 12:08 Uhr

Klaus Dr. Vornberger

Russische Künstler und Komponisten

Wunderbar geschrieben und zu 100% meine Auffassung.

Samstag, 12.März, 10:30 Uhr

Dr. Dietrich Spitzner

Gergiev

mich erinnert die Handlung dieses Oberbürgermeister an die Zeit von McCarthy. Ein Herr Ude hätte bestimmt anders gehandelt. Beschämend, unwürdig. Russland wird es auch nach Putin und dem Oberbürgermeister noch geben. Natürlich ist der Krieg in der Ukraine ein großes Verbrechen. Aber Mächte handeln unmenschlich, siehe Iraq.

Samstag, 12.März, 04:39 Uhr

Dr. Jin

Promovierte Ingenieur und Wagner-Fan

Es ist eine Schande, dass eine offene Gesellschaft Künstler nach deren politische Meinung bestraft, nur weil er/sie nicht unbedingt die Hauptströmung im Einklang ist. Wie viel muss Deutschland noch von Nazi-Zeit lernen? Eine eiseitige, sogar vom meinsten Volker vertretene Meinung muss nicht richtig sein. ich will nur damit sagen, jwmand nur wegen seine Meinung zu strafen, das ist genau eine Kritikpunkt, was wir aus demokratische Land den Diktatur kritisieren, wieso passiert das auch bei uns? Das muss nicht sein.

Freitag, 11.März, 18:14 Uhr

euphrosine

westliche Bigotterie

Den letzten Absatz kann man sich wirklich auf Kissen sticken; danke, Frau Schreiber! Nun ist es ohnedies schon zum Heulen, was gerade in der Ukraine gechieht - und dann auch noch die selbstgerechte Doppelmoral und der Hass in nuanenlosem Schwarz-Weiß hierzulande - dabei sind wir noch gar nicht unmittelbar vom Krieg betroffen. Absolut gruselig.

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