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Reportage ARD-Musikwettbewerb 2017 - Gitarre Über Nerven- und Nagelstärke

Zum ersten Mal seit 1993 wurden beim ARD-Musikwettbewerb Klassische Gitarristen ausgezeichnet - eine große Chance für das Fach und die 36 Teilnehmer. Sie mussten in den vier Runden nicht nur ihr musikalisches Handwerk gut beherrschen, sondern auch auf die Konsistenz ihrer Fingernägel achten - und im Auftragswerk von Vito Žuraj weit über ihre Komfortzone hinausgehen. René Gröger hat die Musiker von Anfang an begleitet.

Die drei Finalisten im Fach Gitarre: Junhong Kuang, Andrey Lebedev und Davide Giovanni Tomasi | Bildquelle: BR/Daniel Delang

Bildquelle: BR/Daniel Delang

Zum Anhören: ARD-Musikwettbewerb 2017 - Finale Gitarre

Ein Bericht von René Groeger

Klavier und Violine - sind das normalerweise nicht die Publikumsmagneten der Klassischen Musik? Dieser Wettbewerb belehrt mich in den ersten zwei Durchgängen eines Besseren. Zu meinem Erstaunen drängen sich die Besucher schon beim ersten Vorspiel vor dem prall gefüllten Konzertsaal und versuchen noch einen Platz zu ergattern. Über zwanzig Jahre sind verstrichen, seit das letzte Mal eine Sologitarre auf der Bühne des ARD Musikwettbewerbs erklungen ist. Entsprechend neugierig sind die Zuhörer auf die jungen Gitarristen und ihr Repertoire. Zum Glück wird viel Unterschiedliches geboten. Während die Teilnehmer in anderen Fächern zum Teil sehr eingeschränkte Wahlmöglichkeiten haben, dürfen die Gitarristen aus einem vielfältigen Programm schöpfen: von Musik der Renaissance über die klassischen Kompositionen des frühen 19. Jahrhunderts bis hin zum zeitgenössischen Repertoire. Hier präsentieren sich nicht nur die jungen Musiker, auch das Instrument wird vorgestellt.

Nagelpflege als Wissenschaft

ARD Musikwettbewerb 2017 - Gitarre | Bildquelle: Unsplash ARD Musikwettbewerb 2017 - Gitarre | Bildquelle: Unsplash Gitarrenwettbewerbe finden selten auf so einer großen Bühne statt wie beim diesjährigen ARD-Musikwettbewerb. Dementsprechend ist auch das Programm ungewöhnlich umfangreich, das die Musiker für die vier Runden vorbereiten müssen. Da ist nicht nur Nerven-, sondern auch Nagelstärke gefragt. Ja, die Nagelpflege ist das Lieblingsthema der Klassischen Gitarristen, wie ich schnell merke. Und nein, das hat sehr wenig mit Eitelkeit, sondern vor allem mit dem richtigen Klang zu tun, der maßgeblich durch die Nägel gestaltet wird. Beim Fachsimpeln mit den Gitarristen fällt mir auf, wie unterschiedlich die Strategien sein können. Kaum einer der Teilnehmer gibt sich mit einer simplen Nagelfeile zufrieden. Je länger ich mich mit ihnen unterhalte, desto klarer wird mir: Das ist keine Nagelpflege. Das ist eine hochkomplexe Wissenschaft.

Sandpapier, Lack und Seide

Sandpapier mit unterschiedlichen Stärken zum Schleifen und Polieren der Nägel, gegen Abrieb schützender Speziallack, verstärkende Streifen aus Seide auf den Nagelspitzen, künstliche Nägel aus Acryl und Tischtennisbälle, von denen man sich im Notfall ein Stück anklebt - die Möglichkeiten erscheinen mir so vielfältig wie das Repertoire.

Es gibt jetzt wesentlich mehr Musiker, die ihr Handwerk sehr gut beherrschen.
Jurymitglied Jürgen Ruck

Künstlerpersönlichkeiten wie Leuchttürme

Die Jury bei der Vorrunde des ARD-Musikwettbewerbs im Instrument "Gitarre". | Bildquelle: BR/Lisa Hinder Die Jury des ARD-Musikwettbewerbs im Instrument Gitarre. | Bildquelle: BR/Lisa Hinder Seit dem das Fach das letzte Mal im Wettbewerb vertreten war, hat sich einiges getan. Wie ich von der Jury und einigen treuen Wettbewerbsbesuchern erfahre, ist das Niveau in den ersten Durchgänge deutlich gestiegen. "Die Pyramide ist nicht mehr so steil. Es gibt jetzt vor allem in der Breite wesentlich mehr Musiker, die ihr Handwerk sehr gut beherrschen.", sagt Jurymitglied Jürgen Ruck. Die Klassische Gitarre hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Künstlerpersönlichkeiten hervorgebracht, die wie Leuchttürme aus dem Meer der Gitarristen herausragen, doch der Wasserspiegel ist jetzt mit Abstand höher.

Auftragswerk mit Bottleneck

Sechs der Teilnehmer schaffen es, sich über Wasser zu halten und erreichen das Semifinale. Hier gibt es kaum noch Wahlfreiheiten für die Musiker. Neben einem Quintett mit dem Novus Quartet als Beigleitung ist die Auftragskomposition "Interfret für Gitarre solo" von Vito Žuraj Pflicht. Der Komponist hat es sich nicht nehmen lassen, zur Uraufführung seines Stückes in die Münchner Musikhochschule zu kommen. Ich beobachte, wie er in der hintersten Reihe aufmerksam die Partitur studiert, während die Musiker auf der Bühne sein Stück - performen. So muss ich es wohl nennen. Das Werk verlangt den Gitarristen sowohl technisch als auch physisch viel ab. "Ich betrachte es als eine Weiterentwicklung der Möglichkeiten, die ein klassischer Gitarrist für ein Stück lernt", sagt mir Vito Žuraj. Eine Weiterentwicklung, die die Teilnehmer im Vorfeld zur Verzweiflung brachte. Mit einem kleinen Metallrohr - dem ursprünglich im Blues verwendeten Bottleneck - auf die Saiten zu schlagen, liegt für viele Klassische Gitarristen sicher außerhalb der Komfortzone.

Dreimal Rodrigo ohne Ersten Sieger

Die drei Finalisten im Fach Gitarre: Andrey Lebedev, Davide Giovanni Tomasi und Junhong Kuang | Bildquelle: BR/Daniel Delang Die drei Finalisten im Fach Gitarre: Andrey Lebedev, Davide Giovanni Tomasi und Junhong Kuang | Bildquelle: BR/Daniel Delang Am Ende ziehen drei Teilnehmer ins Finale: Alle entscheiden sich für das berühmte "Concierto de Aranjuez" von Joaquín Rodrigo. Natürlich haben es alle drei in ihrem Repertoire und bereits mehrmals mit Orchester gespielt. Im Finale möchte niemand mehr ein unnötiges Risiko eingehen - zu viel steht auf dem Spiel. Vielleicht hätte sich etwas mehr Mut aber gelohnt, denn am Ende erhält niemand den Ersten Preis. Das Ergebnis sei eine Bilanz aus allen vier Runden, erklärt mir Jury-Mitglied Jürgen Ruck. Stattdessen verkündet die Jury zwei 2. Preisträger: Davide Giovanni Tomasi (Italien) und Junhong Kuang (China). Der 17-Jährige Chinese erntet den mit Abstand lautesten Beifall und wird zusätzlich mit dem Publikumspreis geehrt. Andrey Lebedev (Australien) wird Dritter, darf sich aber über den Preis für die beste Interpretation des Auftragswerks freuen.

Hervorragende Werbung für das Instrument

Ich freue mich, dass sich das Fach Gitarre in diesem Jahr endlich wieder beim Musikwettbewerb präsentieren konnte. Ich habe viel Neues über das Instrument erfahren und so viele Maniküre-Tipps bekommen, dass ich jetzt ein Nagelstudio eröffnen kann. Die Musiker haben hervorragende Werbung für das Instrument gemacht, das oft etwas abseits von der großen Klassischen Musikwelt stattfindet. Ich würde mir wünschen, dass das Publikum nicht wieder 24 Jahre auf den nächsten Gitarren-Wetbewerb warten muss.

Sendung: "Allegro" am 11. September 2017, 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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