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Zu Hector Berlioz' Oper "Les Troyens" Das Kollektiv als Held

Das Werk ist ein Achttausender der französischen Operngeschichte: "Les Troyens" / "Die Trojaner" von Hector Berlioz. Die riesige Partitur entstand ungefähr zeitgleich mit Wagners "Tristan" – wurde aber erst 100 Jahre nach Berlioz Tod erstmals vollständig und ungekürzt aufgeführt. Am 9. Mai haben die "Trojaner" Premiere an der Bayerischen Staatsoper.

Dido and Aeneas, Gemälde von Nicolas Verkolye (frühes 18. Jh.) | Bildquelle: picture alliance / Liszt Collection

Bildquelle: picture alliance / Liszt Collection

(Bild: Dido and Aeneas, Gemälde von Nicolas Verkolye)

Neuartig und unkonventionell – Berlioz Oper "Les Troyens" (1858) ist ein Monumentalwerk der Romantik. Es blieb zwar ohne Auswirkung auf die Operngeschichte, hat aber viel Interessantes zu bieten. Denn Berlioz entwickelte das Geschehen aus der Perspektive eines Volkes und nicht, wie üblich, aus einem Konflikt zwischen Individuen: Unverschuldet erleidet eine Gruppe ein Schicksal, das allen gemeinsam ist. Hier, bei den solidarischen Befindlichkeiten, dockt der Komponist an – und beweist musikalischen Erfindungsgeist. 

Ein ganzes Volk im Mittelpunkt  

Besonderheiten findet man in diesem Werk viele. Normalerweise tritt eine Einzelperson als Titelheld*in auf. In "Les Troyens" ist es eine Gruppe, ein Kollektiv. Berlioz lässt Individuen aus dieser Gruppe hervortreten und in sie zurückkehren. Keineswegs baut er sie zu bejubelten Heroen auf. Aeneas etwa müsste nach der Libretto-Vorlage von Vergil der zentrale Held sein. Doch während der beiden ersten Akte spielt er nur eine Nebenrolle. Erst später lernt das Publikum ihn näher kennen.  

Großer Klang und großer Chor   

Berlioz interessieren, wie schon in seinem Requiem, entfesselte Klangmassen im XXL-Format. Überwältigende Raumwirkungen – die sind sein Ding. Über die Hälfte aller Gesangsszenen ist ausschließlich oder anteilig mit Chor besetzt. Wer Zahlen mag: Es sind 25 von insgesamt 46 Nummern. Und die verbleibenden 21 Stücke sind zu einem Drittel Ensembles. Wo bleiben nur die Arien?   

Berlioz vermeidet bewusst Solisten   

Der Komponist Hector Berlioz. Koloriertes Foto nach Pierre Petit | Bildquelle: picture alliance / Bianchetti/Leemage Hector Berlioz | Bildquelle: picture alliance / Bianchetti/Leemage Das Genre Oper erkennt sich selbst nicht wieder – diese völlig untypische Demokratisierungstendenz! Es kommt bei den "Trojanern" zu einer Entthronung des Opernstars, er wird schlicht ent-idolisiert. Berlioz hat als notgedrungen nebenberuflich tätiger Rezensent so viele schlechte Erfahrungen in den Gesangstempeln gesammelt, dass sich bei ihm eine klare Aversion gegen Sänger*innen entwickelt hat: "Ein Sänger oder eine Sängerin, fähig auch nur sechzehn Takte gute Musik mit natürlicher, gut sitzender, sympathischer Stimme zu singen, und zwar ohne Überanstrengung, ohne Verstümmelung des Ausdrucks, ohne Plattheit, Effekthascherei oder Geziertheit, ohne Sprachfehler, ohne bedenkliches Portamento, ohne Hiatus, ohne freche Änderung von Text oder Tonart, ohne Glucksen, Bellen oder Meckern, ohne falsche Einsätze, verbogene Rhythmen, lächerliche Verzierungen, schändliche Appogiaturen, mit einem Wort, so zu singen, dass die vom Komponisten geschriebene Musik verständlich wird und einfach das bleibt, was sie nach ihrem ursprünglich notierten Sinn war – ein solcher Sänger, eine solche Sängerin ist ein seltener, ein sehr seltener, ein außerordentlich seltener Paradiesvogel."

Es spricht für Berlioz, dass er sich hier auf musikalische Unarten beschränkt. Sein Sarkasmus richtet sich nicht gegen sängertypische Eitelkeiten im Spiel, gegen den Drang zur Rampe, die immer gleichen Gesten, das hilflose Herumstehen oder Routine-Allüren aller Art.   

Stimm-Ensemble als Garant für den perfekten Klang   

Und so ist auch die überproportionale Beschäftigung des Chores vor allem musikalisch zu erklären. Als Zuflucht zu einem Ensembleklang menschlicher Stimmen, bei dem die angeprangerten Unzulänglichkeiten der Solisten ausgeglichen werden. Denn eigentlich liebt Berlioz das tragische Dreigestirn Cassandre-Énée-Didon, besonders die beiden unglücklichen Frauengestalten. Er denkt bei Cassandre an eine imposante antike Seherin, unbeugsam und von ausgeprägter Erhabenheit. Mit Didon durchleidet er die Höhen des Liebesglücks – wie auch die Depressionen der Verzweiflung. Wenn Berlioz das Chorische akzentuiert, will er das Volk der Trojaner zum eigentlichen Hauptakteur erheben.  

Berlioz malt neue Klangfarben  

Im deutschen Sprachgebrauch gibt es das Kompositum "Klangfarbe". Gemeint ist damit die Schnittstelle, an der akustische Vorgänge in solche der Musik übertragen werden. Berlioz spielt mit den Instrumentengruppen des Orchesters, als wären sie Register einer Orgel. Als erster Komponist dramatischer Musik geht er von einer sozusagen vollständigen Klangfarbenpalette des Aufführungsapparats aus: mit Streichern, Holz- und Blechbläsern, aber eben auch Schlagwerk. In den "Trojanern" gibt er zum Beispiel in der "Chasse Royal et Orage" (der Eröffnung des vierten Aktes) den Virtuosen der Geige und Flöte, Trompete und Pauke. Kurz: den Musiker, der mit Tonfolgen und -gebäuden malt wie ein Claude Monet an der Staffelei mit dem Pinsel. Schon 1830, im Uraufführungsjahr der epochalen "Symphonie fantastique", war der Sound nicht mehr nur eine Frage der Harmonik, sondern auch eine Frage der Orchestrierung.

Das Orchester trägt die Dramatik 

Durch das, was Fachleute "couleur dramatique" nennen, wird das Orchester zum sinnbildlichen Träger des Geschehens. Die Klangfarbe verdeutlicht den dramatischen Konflikt. So ist der erste Akt der "Trojaner" geprägt vom Gegensatz zwischen Cassandre und dem trojanischen Volk, das ihren Prophezeiungen keinen Glauben schenkt. Den Chor begleiten ausschließlich Bläser. Bei Cassandres Erscheinen setzt das kontrastierende Register der Streicher ein. So wird abrupt eine andere Weltsicht zur Klanggestalt.   

Klangfarben stützen die Gesten auf der Bühne 

ARD-Musikwettbewerb 2019 - Violoncello, Klarinette, Fagott, Schlagzeug | Bildquelle: picture-alliance/dpa Sehr wichtig in Berlioz' Behandlung des Orchesters: die Klangfarber der einzelnen Instrumente (hier: Fagotte). | Bildquelle: picture-alliance/dpa Verdient macht Berlioz sich auch um die so genannte "couleur caractéristique". Eine Pantomime im ersten Akt weist die Kombination von Klarinette mit Streichern auf. Andromaque, die trauernde Witwe Hectors, tritt mit ihrem Kind unter die ausgelassenen Trojaner und stellt es König Priam vor. Der Chor kommentiert die Gesten. Berlioz mischt die Klarinette mit den höheren Streichern. Und die Wirkung? Der Klarinettenklang wird noch weicher, als er ohnehin ist. Die Streicher treten selbst nicht als Melodieträger hervor, sondern bilden eine Aura. Dem werden die Gesten des Königs klangfarblich entgegengestellt. In einem vierstimmigen choralartigen Satz der Blechbläser und tiefen Streicher, die darin der Klarinettenbegleitung korrespondieren. Als zusätzlichen Klangfarbeneffekt hebt Berlioz einzelne Bewegungen des Königs durch einen dezenten Harfenakkord hervor (inklusive Großer Trommel, Becken und Pauken). So wird dem Monarchen ein gewissermaßen überirdisch würdiger Charakter verliehen

Klangfarbendisposition – Coleur Descriptive   

Vielleicht am deutlichsten bereitet die "couleur descriptive", wie Berlioz sie handhabt, die Neuerungen späterer Stilrichtungen vor: Impressionismus, Expressionismus. Das Mischklangideal tritt dabei in den Vordergrund. Neue Sound-Ideen werden zur Diskussion gestellt. Bei Énées Teichoskopie im ersten Akt, einem gesungenen Bericht, kommentiert das Orchester. Auf die Worte "gonflé de rage" ("aufgebläht vor Zorn") ertönt unter einem aufgeregt repetierten Klang der höheren Holzbläser das Crescendo einer leeren Quinte in tiefster Lage: gespielt von Fagotten, Hörnern und Posaunen. Deren Pedaltöne erzeugen eine leicht knatternde Klangfarbe, als Klangsignum des fantastischen Ungeheuers – in Gestalt der beiden Riesenschlangen, die Laokoon auf dem Gewissen haben.     

Berlioz Musik als Brücke ins Unbewusste     

Komponist Wolfgang Rihm | Bildquelle: © Astrid Ackermann In seiner Fortschrittlichkeit war Berlioz ein Vorläufer moderner Komponisten (hier: Wolfgang Rihm). | Bildquelle: © Astrid Ackermann Der Auftritt des toten Hector zu Beginn des zweitens Aktes ist ein Beleg für solch sprechende, überraschende Klanginszenierungen. Das Herannahen des Gespenstes an den halb wachen, halb träumenden Énée wird begleitet von einem verschieden gestopften Hörnerquartett. Ein splittriger Klang entsteht. Ruhig und doch unheimlich entsteht ein atmendes Klanggeflecht, über tiefen Streicherpizzicati und -tremoli. Die Szene spielt sich in einem musikalischen Dämmerlicht ab.  
Berlioz, der Sound-Tüftler. Der Pionier der Orchestersprache. Tief lotet er hinab in seelische Regionen des Menschen. Seine Musik wird zur Brücke ins Unbewusste. Solche Fortschrittlichkeit wird erst von der klassischen Avantgarde aufgegriffen und weiterentwickelt: Wolfgang Rihm, Adriana Hölszky, Helmut Lachenmann. Bei ihnen gibt es eine ähnliche Vorherrschaft von Klangfarbe im Raum. Als Prämisse für das Genre Oper, verstanden als Musik-Theater. 

Infos zur Premiere

Montag, 9. Mai 2022, ab 17:00 Uhr
Erstmals am Premierenpult des Hauses steht der italienische Dirigent Daniele Rustioni.
Regie führt der Franzose Christophe Honoré.
Mehr dazu auf der Homepage der Bayerischen Staatsoper.
BR-KLASSIK überträgt die "Troyens"-Premiere live im Radio.

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