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Chefdirigent Lionel Bringuier verlässt Zürich Schluss beim Tonhalle-Orchester

Gerade mal zwei Spielzeiten hat Lionel Bringuier das Tonhalle-Orchester Zürich geleitet. Nun steht fest: Er wird seinen Vertrag als Chefdirigent nicht verlängern. 2018 ist Schluss - über die Gründe wird viel spekuliert.

Dirigent Lionel Bringuier | Bildquelle: © Paolo Dutto

Bildquelle: © Paolo Dutto

Gerüchte über eine baldige Trennung von Dirigent und Orchester machten schon länger die Runde - nun ist es offiziell: Lionel Bringuier verlässt das Tonhalle-Orchester Zürich. Sein Vertrag läuft mit Ende der Saison 2017/18 aus und wird nicht verlängert. Der Chefdirigent und die Tonhalle-Gesellschaft hätten dies "gemeinsam entschieden", hieß es in der offiziellen Mitteilung.

Mitteilung des Tonhalle-Orchesters:

"Chefdirigent und Musikalischer Leiter Lionel Bringuier und die Tonhalle-Gesellschaft Zürich haben gemeinsam entschieden, den Vertrag, der noch bis Ende Saison 2017/18 dauert, auslaufen zu lassen. (...) Der Vorstand der Tonhalle-Gesellschaft Zürich und die Geschäftsleitung freuen sich über die weitere Zusammenarbeit mit Lionel Bringuier in den kommenden zwei Jahren und über die gemeinsamen Herausforderungen und Chancen am neuen Spielort in Zürich West ab 2017/18."

Lionel Bringuier - eine Fehlentscheidung?

Lionel Bringuier | Bildquelle: Jonathan Grimbert-Barré Lionel Bringuier trat 2014 das Amt des Chefdirigenten beim Tonhalle-Orchester Zürich an. | Bildquelle: Jonathan Grimbert-Barré Dass 2014 ein junger Dirigent nach der fast zwei Jahrzehnte andauernden Ära von David Zinman die Leitung des Orchesters übernahm, war sicherlich ein großer und mutiger Schritt. Doch der damals 27-jährige Bringuier war vom Orchester einstimmig zum neuen Chefdirigenten gewählt worden. Voller Enthusiasmus begann die Zusammenarbeit. In den vergangenen zwei Jahren scheint sich die Situation jedoch grundlegend verändert zu haben. So schätzen es verschiedene Schweizer Medien ein. Die "Basler Zeitung" stellt fest, es habe sich zwischen Bringuier und dem Orchester "nichts entwickelt". Die Vermutung, dass das Tonhalle-Orchester Zürich mit Bringuiers Leistung nicht zufrieden gewesen sei, wies die Tonhalle-Intendantin Ilona Schmiel jedoch zurück. Sie erklärte gegenüber der "Neue Zürcher Zeitung" etwas undurchsichtig, man sei schlicht zu der Einschätzung gelangt, dass vier Jahre genug seien.

Nachfolger-Suche unter erschwerten Bedingungen

Die Tonhalle in Zürich, die Heimat-Spielstätte des Orchesters, wird in den kommenden Jahren renoviert. Das bedeutet, dass das Orchester ab Sommer 2018 ausweichen muss. Als Provisorium soll die Maag-Halle dienen. Genau in dieser unsicheren Phase anzufangen, klingt für mögliche Kandidaten für den Chefdirigenten-Posten nicht gerade verlockend - eine Herausforderung, der sich Orchester und Management nun stellen müssen.

SRF-Musikredakteur Benjamin Herzog im Interview zu den Hintergründen

Zu den großen Verdiensten Lionel Bringuiers gehört sicherlich die Komplett-Einspielung des gesamten Orchesterwerks von Maurice Ravel, die der junge Franzose mit dem Tonhalle-Orchester Zürich auf vier CDs aufgenommen und veröffentlicht hat. Überhaupt habe Bringuier das Repertoire des Orchesters gerade in dieser Hinsicht erweitert, hebt Benjamin Herzog, Musikredakteur beim SRF, lobend hervor. Herzog sieht hierin eine besondere Stärke des jungen Dirigenten - sowie auch darin, dass Bringuier häufig Neue Musik ins Programm integriert, im Gegensatz zu seinem Vorgänger David Zinman.

BR-KLASSIK: Herr Herzog, Lionel Bringuier wird das Tonhalle-Orchester verlassen. Gerüchten zufolge war das Orchester mit seiner Leistung nicht so zufrieden. Können Sie das bestätigen?

Benjamin Herzog: Bestätigen würde ich das nicht. Es gibt in einem großen Orchester immer Leute, die mit dem Chefdirigenten oder der Chefdirigentin zufrieden sind - und andere, die es weniger sind. Ich habe mich unter den Musikern umgehört und neben sehr positiven Aussagen: "ein junger Dirigent", "sehr talentiert", "nett im Umgang auch mit den Musiker" auch Stimmen gehört, die sagten, es hätte ihnen etwas an Eigeninitiative gefehlt. Bringuier hätte sich nicht so sehr exponiert beim Lesen der Partituren und damit dem Orchester nicht immer die spannendste Lektüre vorgelegt.

BR-KLASSIK: Wie haben Sie Lionel Bringuier denn selbst auf der Bühne erlebt?

Benjamin Herzog: Ich habe sein Konzert erlebt, mit dem er seinen Einstand als Chefdirigent gegeben hat. Das hat mich umgehauen. Es war auch Bringuiers Kernrepertoire: Musik von Maurice Ravel, der "Carnaval Romain". Das war hinreißend gespielt. Im Gegensatz zu dem eher bedächtigen David Zinman habe ich das Orchester hier auf Highspeed erlebt - sowohl was das Tempo als auch dynamische Schattierungen und Reaktionsgeschwindigkeit betrifft. Da dachte ich wirklich, jetzt bricht etwas ganz Neues an. Im Kernrepertoire, bei einer Mahler-Sinfonie beispielsweise, konnte Bringuier durchaus auch mal so etwas abliefern wie guten Standard. Da hätte ich mir dann ab und zu mehr gewünscht.

BR-KLASSIK: David Zinman war 19 Jahre beim Tonhalle-Orchester Zürich. Bringuier hat also durchaus ein großes Erbe angetreten. Ist so etwas nicht grundsätzlich eine schwierige Situation für einen jungen Dirigenten?

Benjamin Herzog: Auf jeden Fall. Ich denke, die meisten Leute im Orchester haben sich an David Zinman gewöhnt. Er hat das Orchester aus der Mittelmäßigkeit auf eine Spitzenposition gehoben. Es hat internationale Beachtung gefunden und ich glaube, Ermüdungserscheinungen waren keine hörbar - auch am Schluss nicht. Dass man danach jemanden nimmt, der ganz anders aufgestellt und ganz jung ist, fand ich eigentlich eine gute Entscheidung. Ich persönlich hätte Bringuier auch etwas mehr Zeit gegeben - nicht bloß vier Jahre.

BR-KLASSIK: Das Orchester hat nun nur zwei Jahre Zeit, um einen Nachfolger für Bringuier zu finden. Verträge mit Dirigenten werden aber häufig lange im Voraus geschlossen. Ist zu erwarten, dass es da nur zu einer Zwischenlösung kommt?

Benjamin Herzog: Ich würde fast sagen, Bringuier selbst ist in dieser kurzen Periode eine Zwischenlösung - so schade das ist. Die Intendantin hat mir gesagt, man beginne jetzt zu suchen. Im Saison-Programm haben sie spannende Namen wie François-Xavier Roth oder den jungen israelischen Dirigenten Omer Meir Wellber. Das könnten potenzielle Nachfolgekandidaten sein, denn so jemand muss das Orchester ja auch mal dirigieren. Man wird sehen, wie es weitergeht.

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