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Kritik – "Club Silencio" an der Bayerischen Staatsoper Fort Knox, Madama Butterfly und ein Glückskeks

An der Bayerischen Staatsoper wird wieder behutsam vor kleinem Publikum gespielt: Samstags mit KünstlerInnen des Hauses und Stargästen, am Sonntag steht die Bühne für die Freie Kunstszene offen. In der zweiten Ausgabe der Reihe "Freier Sonntag" zeigte die Münchner Regisseurin Yana Thönnes mit einem sechsköpfigen Ensemble die Revue "Club Silencio" – frei nach dem skurrilen Club Silencio aus David Lynchs Film "Mulholland Drive".

Peter Ambacher (Madama Butterfly) | Bildquelle: Wilfried Hösl

Bildquelle: Wilfried Hösl

"Club Silencio" an der Bayerischen Staatsoper

Gespräch mit Sylvia Schreiber

In der Oper wie im Film erlebt eine geschlossene Gesellschaft verschiedene Revuegäste, die alle nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Diese Idee aus einem Ping-Pong-Spiel zwischen Fake und Wirklichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch den Abend. Dafür muss man allerdings erst mal drin sein im Nationaltheater, in dieser Münchner Dependance des "Fort Knox": Personifiziertes Ticket, desinfizierte Hände, Maske auf, Bodyguard bis zum nummerierten Sitzplatz. Und der befindet sich nicht wie gewohnt im Zuschauerraum, sondern auf der Bühne.

Den Keks in die Tasche

Als Amuse-Gueule liegt ein chinesischer Glückskeks auf dem Stuhl. Bevor man sich selbst Fragen stellt über den Zusammenhang zwischen Glückskeks, dem aus China stammenden Sars-CoV-2-Virus und der Veranstaltung, geht es los. Den Keks also rasch noch in der Tasche verstaut, damit bloß nichts knistert an diesem ersten Opernabend nach drei Monaten Entzug.

Geschrumpfte Bühne

Yana Thönnes (Rebekah Del Rio), Thomas Hauser (Naomi Watts), Brigitte Hobmeier (Laura Harring) | Bildquelle: Wilfried Hösl "Club Silencio" an der Bayerischen Staatsoper: Yana Thönnes (Rebekah Del Rio), Thomas Hauser (Naomi Watts), Brigitte Hobmeier (Laura Harring) | Bildquelle: Wilfried Hösl Zwei weiße Plüschkaninchen schweben zu elektronischen Klangwolken auf den Flügel. Ein Conférencier im roten Pailletten-Outfit begrüßt die in grünes Licht getauchten Besucher und Besucherinnen. Die herkömmliche Welt ist verkehrt: Das Publikum sitzt maskiert im großen Bühnenraum, wo eigentlich maskierte Sängerinnen und Sänger Operngeschichten erzählen. Die Bühne des Abends ist zusammengeschrumpft auf einen schmalen Grat zwischen der ersten Stuhlreihe und dem Orchestergraben. Dahinter blickt man in den rötlich beleuchteten leeren Zuschauerraum, der an ein aufgerissenes, gieriges Maul erinnert. Gierig nach Menschenleben!

Drag Queen als Butterfly

Nacheinander stellt der Conférencier im getragenen Tonfall die verschiedenen Gäste der Revue vor. Als Erster galoppiert ein junger Mann herein. Er ist weiß gekleidet, seine Lackschuhe klacken, ein Pferdeschweif am Hinterteil wippt im Rhythmus. Sofort klingelt es im eigenen Bilderschatz: Schimmel – Pferdeballett – Hofreitschule. Eine Drag Queen im japanischen Geisha-Kostüm singt Karaoke zur berühmten Arie der Cio-Cio-San "Un bel dì vedremo" aus Puccinis Oper "Madama Butterfly". Auch hier spielt Regisseurin Thönnes mit der Erwartungshaltung des Publikums: Die Butterfly im "Club Silencio" ist ein dralles Mannsbild und keine zarte Geisha, sie begeht auch nicht Selbstmord, sondern stolziert davon mit ausgestrecktem Mittelfinger.

Plötzlich macht sich kraft der Musik eine riesige Sehnsucht breit: nach dem Erlebnis 'Oper'!

Die Oper als Zoo?

Belle Santos (Alien in der Königsloge) | Bildquelle: Wilfried Hösl "Club Silencio" an der Bayerischen Staatsoper: Belle Santos (Alien in der Königsloge) | Bildquelle: Wilfried Hösl Des Weiteren entdeckt man plötzlich in der Königsloge eine sich räkelnde Tänzerin im schillernden, hautengen Kleid. Eine der Rheintöchter vielleicht? Oder Rusalka? Moment, sie hat ja kein Gesicht. Ihr Kopf ist von allen Seiten mit feuerrotem Haar bedeckt, wie ein Orang-Utan. Die Oper als Zoo – oder der Zuschauer ein Tier ... auch hier eröffnet Regisseurin Thönnes Raum für Fragen. Für das Ende der Show holt Yana Thönnes weit aus: Das Pferd aus dem Auftakt der Revue mutiert zum Dirigenten. An der Bühnenkante stehend dirigiert der weiß bekleidete Jüngling gestenreich ein imaginäres Orchester und das spielt Richard Wagners Ouvertüre zum "Fliegenden Holländer". Der aufwühlende Sound bricht aus den Lautsprechern über das Publikum herein wie ein Tsunami, die Illusion einer "realen Oper" ist für einen Augenblick perfekt. Und plötzlich macht sich kraft der Musik eine riesige Sehnsucht breit: nach dem Erlebnis "Oper"! Nach den Illusionen, nach den Lebensgeschichten, die uns die Oper in genau diesem Haus auf dieser Bühne sonst so wunderbar erzählt: menschliche Geschichten über Liebe, Hass, Mord, Eifersucht, Ängste und Freuden. Manche mit Happy End, manche ohne.

Halsbrecherischer Sprung in den Orchestergraben

Im "Club Silencio" gibt es kein Happy End. Auf der Bugwelle des "Fliegenden Holländers" wird der Orchesterklang durch elektronisch erzeugtes Geknister zerstört. Der Dirigent, also das weiße Pferd, stürzt sich mit einem halsbrecherischen Sprung in den Orchestergraben. – Das war's. Der Vorhang schließt sich. Aus dem Zuschauerraum dröhnt irrsinniger Applaus. Oder bilden wir uns den etwa nur ein? Auf der Bühne jedenfalls tönt das Klatschen des Publikums nur dünn, was eben 50 Leute, die unter den Gesichtsmasken schwitzen, noch so hervorbringen nach 45 Minuten Showtime.

Ein bisschen Illusion bleibt

Wie kleine, schwer erziehbare Kinder werden alle einzeln von ihren Plätzen gelotst. Raus ins Freie, in den Regen, in die Realität. Ein bisschen Illusion aber bleibt tatsächlich im Kopf vom "Club Silencio", ein bisschen Futter für die eigene Fantasie. Ach ja, und der chinesische Glückskeks!

Sendung: "Allegro" am 15. Juni 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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