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GO SING CHOIR – Singen im Club Gemeinschaftserlebnis mit 400 Sängern

Die Kneipenchor-Tradition hat momentan Hochkultur. Das einzige Problem: Die Chöre sind hoffnungslos überfüllt, die Wartelisten sind voll. Jens Junker, der Leiter des Münchner Kneipenchores, hatte deswegen eine Idee: Warum nicht einen Chor gründen, in dem alle mitmachen können und in dem es keinen Aufnahmestopp gibt? Dieser Spontanchor probt einmal im Monat. Wie das funktioniert, haben wir uns angesehen: Tabea Eppelein war für BR-KLASSIK bei einer Probe des "GO SING CHOIR" dabei.

Der Münchner Spontanchor GO SING CHOIR | Bildquelle: Pius Neumaier

Bildquelle: Pius Neumaier

Isarvorstadt in München. Sonntagabend, 19 Uhr: Normalerweise ist um diese Uhrzeit auf der Lindwurmstraße nicht viel los, doch vor dem Club STROM steht eine riesige Menschentraube und wartet geduldig auf den Einlass. Alle wollen singen – und zwar beim GO SING CHOIR, der heute dort probt.

Kneipenchöre füllen ein Vakuum

Bevor es losgeht, treffe ich mich mit Chorleiter Jens Junker und Gitarrist Ian Chapman. Die beiden sind schon ein wenig aufgeregt, denn heute musiziert der Chor das erste Mal in dieser neuen Location, davor waren sie immer im Milla Club im Glockenbachviertel. Dort wurde es auf Dauer allerdings zu eng. Anfangs waren es 80 Mitglieder, im Lauf der Zeit sind es immer mehr geworden: Heute rechnen sie mit 300 Sängerinnen und Sängern. Ich frage Jens, warum diese zwanglosen Chöre so beliebt sind, während beispielsweise Kirchenchöre über Sängermangel klagen. "In einem festen Chor zu singen ist meistens schon auch etwas Intimes", antwortet er mir. "Man lernt sich sehr gut kennen, man ist über eine lange Zeit zusammen. Das muss einfach passen. Und das ist ja auch das Tolle in München: Es gibt für jeden etwas, ob das jetzt der Gospelchor hier oder der Jazzchor da oder ein Kirchenchor oder ein ambitionierter Popchor ist. Und es gibt auch die Leute, die einfach Lust haben zu singen, aber die halt ein anderes Leben führen, zu denen eine Kirche oder ein Gemeinderaum oder ein Pfarrsaal nicht so passt. Und von daher ist es auch verständlich, dass die Kneipenchöre ein Vakuum gefüllt haben, das lange entstanden ist, über viele Jahre".

GO SING CHOIR

Der GO SING CHOIR ist ist Münchens erster "openPOPchoir": Er ist offen für alle, es gibt keine Wartezeiten und es sind keine Notenkenntnisse erforderlich.
Informationen über die vergangenen und zukünftigen Projekte finden Sie auf der Homepage des Chores.

Die Kneipenchöre haben ein Vakuum gefüllt, das über viele Jahre entstanden ist.
Jens Junker, Chorleiter

Singen ohne Noten

Der Raum füllt sich ziemlich schnell. Am Ende sind es 400 Menschen, die singen wollen. Ich mische mich darunter. Ein wenig skeptisch bin ich schon; denn ich komme eher aus der "klassischen" Chorschule und singe am liebsten nach Noten. Hier bin ich erst einmal etwas überfordert: Am Eingang bekomme ich einen DIN-A-4-Zettel in die Hand gedrückt, darauf drei Spalten: Melodie, tiefe Harmonie, hohe Harmonie. Darunter nur der Text, aber keine Noten. In zwei Stunden sollen Leute, die noch nie miteinander gesungen haben, einen kompletten Song lernen. Und zwar auswendig. Ich kann nicht so ganz glauben, dass das wirklich klappt.

Trauriger Song zur Einweihung

Der Song des heutigen Abends wird vorgespielt: "Mad World" von Gary Jules. Die meisten singen schon einmal mit, andere holen sich an der Bar noch etwas zu trinken. Ich habe eher das Gefühl, dass gleich ein Konzert stattfindet und keine Chorprobe. Alle stehen in Blickrichtung zur Bühne, in gespannter Erwartung. Dann treten Jens und Ian auf, und es fängt so an, wie ich es gewohnt bin: mit dem Einsingen. Nach einigen "Ohs" und "Ahs" startet dann die eigentliche Probe: "Mad World" ist ein eher trauriger, gesellschaftskritischer Song. Für das erste Treffen im STROM ein solches Lied herauszusuchen, finde ich ein bisschen seltsam. Jens erklärt die Auswahl: "Natürlich hat der Song eigentlich einen ganz anderen Hintergrund, aber irgendwie fanden wir beide, dass das ein ganz guter Anfang ist, in der neuen Location mit der verrückten Welt und einer verrückten Einweihungsfeier anzufangen."

Auswendig singen ist gar nicht so einfach

Der erste Eindruck im Getümmel: Ich höre mich selbst nicht. Außerdem fällt es mir wahnsinnig schwer, ohne Noten zu singen. Die einzige Orientierung sind die Handbewegungen von Jens. Im Backstage-Bereich erklärt er mir, wieso das Singen ohne Noten für alle von Vorteil ist: "Leute, die Noten lesen können und die vielleicht diese Arrangements mehr oder weniger vom Blatt singen könnten, die haben natürlich im Regelfall dieses Handicap, dass sie gewohnt sind, nicht auswendig singen zu müssen. Und gleichzeitig gibt es Viele, die einfach überhaupt keine Gesangserfahrung haben, denen das Auswendiglernen eigentlich zugutekommt." Und daraus ergibt sich dann eine Schnittmenge aus beiden "Handicaps", wie Jens das ausdrückt. Die einen sind mit dem Auswendiglernen gefordert und die anderen mit dem Nachsingen.

Erfolgserlebnis: YouTube-Video

Andere Chöre geben Konzerte und proben monatelang dafür. Der GO SING CHOIR hat sein Erfolgserlebnis bereits nach zwei Stunden erreicht: eine Videoaufnahme wird gemacht und in ein paar Tagen dann auf YouTube hochgeladen. "Das ist ein wichtiger Bestandteil", sagt Jens, "der GO SING CHOIR findet dann praktisch nicht nur live statt, sondern hat anschließend noch eine zweite Ebene im Internet, wo auch ein sehr großer Austausch zwischen den Leuten stattfindet. Es ist schon ein wichtiges Element, wenn die Leute das noch einmal nachempfinden können. Gerade in einer so großen Gruppe hörst du ja nie den Gesamtklang, bekommst gar nicht mit, was die Harmoniestimme auf der anderen Seite singt. Und da kriegst du zum ersten Mal den Song im Ganzen mit."

Am Ende ist der Videodreh geschafft, der Popsong klingt richtig gut, und ich bin zwar erledigt, aber auch wirklich begeistert: 400 Leute singen gemeinsam, ob alt, ob jung, ob geübt oder nicht: Das Konzept geht auf und ich gehe wohl etwas entspannter in meine nächste eigene Chorprobe.

Sendung: "Allegro" am 24. Oktober 2018 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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