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Gil Shaham im Interview "Man muss alles über sich wissen"

Mit Beethovens Violinkonzert geht der Geiger Gil Shaham zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Maestro Mariss Jansons auf Asien-Tournee. Was ihn beim Proben inspiriert, was das Verhalten von Babys mit Musik zu tun hat und warum man beim Musizieren Distanz zu sich selbst halten sollte - das verrät der US-Amerikaner im Interview mit BR-KLASSIK.

Geiger Gil Shaham | Bildquelle: © Luke Ratray

Bildquelle: © Luke Ratray

BR-KLASSIK: Gil Shaham, gerade in der Probe lag auf Ihrem Pult nur Ihr Handy. Auf dessen Rückseite ist ein Foto Ihrer Kinder zu sehen. Schauen Sie da beim Spielen drauf?

Gil Shaham: Absolut. Sie inspirieren mich. Sie haben mir das Foto zum Geburtstag geschenkt. Kein digitales, ein analoges Foto! Ganz altmodische Technik (lacht). Dann haben wir eine durchsichtige Handyhülle aus Plastik gesucht und das Foto darunter gesteckt.

BR-KLASSIK: Was hat so etwas Privates mit dem Musizieren zu tun?

Gil Shaham: Ich glaube: alles. Ich will jetzt nicht zu sentimental werden. Und auch nicht zu selbstbezogen als Musiker. Aber es hat schon seinen Grund, dass die Musik die "Kunst der Gefühle" genannt wird. Und ich glaube, dass für uns Menschen Gefühle die stärkste Kraft in unserem Universum sind. Beethoven hat ja gesagt, Musik sei eine höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie. Um ehrlich zu sein: Es sind immer wir Musiker, die solche Dinge sagen (lacht). Aber ich glaube schon, dass das stimmt. Vielleicht können wir diese Dinge gerade deshalb durch Musik erreichen, weil sie abstrakt ist. Sie ist eine Metapher. Und deshalb können wir unser Innerstes, das, was uns eigentlich ausmacht, in unserer Musik spiegeln. Sehen Sie, jetzt bin ich doch sentimental geworden (lacht). Aber so in etwa sehe ich das.

BR-KLASSIK: Weil die Töne abstrakt sind, muss sich ein Musiker nicht exhibitionistisch preisgeben, er kann Geheimnisse bewahren. Aber kostet es nicht trotzdem manchmal Überwindung, seine innersten Gefühle so offen zu zeigen?

Gil Shaham: Mendelssohn hat es genau andersherum gesehen. Er meinte, Worte seien abstrakt und unbestimmt, die Musik sei viel genauer beim Ausdruck unserer Gefühle. Interessant, nicht? Auf diese Weise kann man es auch sehen.

BR-KLASSIK: Hat Mendelssohn recht?

Gil Shaham: Spannende Frage. Wir wissen alle sehr gut, wie wichtig die Sprache ist. Auch als Vater merke ich das immer wieder: Die richtigen Worte sind so wichtig, um sich zu verständigen, um sich auszudrücken. Ja, Worte sind entscheidend. Andererseits war es auch sehr beglückend, meine Kinder zu erleben, als sie noch nicht sprechen konnten. Vielleicht ist das jetzt zu philosophisch - aber wenn Sie sich ein Baby anschauen, wie es seine Gefühle ausdrückt mit dem Körper und mit dem Gesicht, dann merken Sie, dass es nicht so denkt wie wir, mit Sätzen und gedanklichen Konzepten. Babys reagieren viel unmittelbarer auf Reize. Wenn etwas sehr schnell passiert oder langsam, oder etwas Überraschendes oder Lautes oder Ruhiges, oder wenn etwas allmählich langsamer und leiser wird (macht es mit der Stimme nach), dann wirkt das genau wie Musik. Das ist Musik! Und wenn Sie einem Baby Musik vorspielen, dann spüren Sie sofort, welche Wirkung das hat. Und darum, glaube ich, hat Musik diese unglaubliche Kraft: Weil sie zu unserem vorsprachlichen Ich vorstößt.

Abstand zu sich selbst

BR-KLASSIK: Zurück zum Mut: Braucht man den, um seine Gefühle so offen und ungeschützt auf der Bühne zu zeigen?

Gil Shaham: Absolut. Das wichtigste für jeden Künstler ist, von sich selbst wegzukommen. Man geht auf die Bühne und versucht, sich in sein Publikum hinein zu versetzen. Aber um von sich selbst wegzukommen, muss man sich erstmal genau kennen. Man muss alles über sich wissen, sich mit sich selbst konfrontieren. Wissen Sie, in all den Jahren habe ich es eigentlich nie wirklich geliebt, auf die Bühne zu gehen. Man kann wirklich klügere und vernünftigere Sachen machen, als sich auf eine Bühne zu stellen. Aber jetzt, wo ich es nun mal schon so lange tue, merke ich doch auch, dass ich großes Glück habe, das machen zu dürfen und zu müssen. Denn es hat mich gezwungen, über mich selbst nachzudenken, mich ständig zu verbessern. Ich hoffe jedenfalls, dass ich mich verbessert habe - und auf andere Weise wäre das wohl kaum passiert.

BR-KLASSIK: Wie schafft man es dann, von sich selbst wegzukommen, nachdem man durch diese Konfrontation mit sich selbst hindurchgegangen ist?

Gil Shaham: Ein Beispiel: Meine Lehrer haben immer gesagt, nimm dich selbst beim Spielen auf, hör dir zu und du wirst sehr viel lernen. Damals hatten wir Kassettenrekorder - sehr alte Technik … Ich hab das nie gemacht. Ich glaube, ich hatte einfach Angst davor. Schließlich habe ich vor etwa 15 Jahren doch damit angefangen. Heute ist das so einfach mit dem iPhone. Man nimmt eine App, drückt aufs Display und nimmt alles auf. Dadurch habe ich so viel gelernt. Nur weil ich mir selbst zugehört habe! Und selbst diese Distanz zu sich selbst reicht nicht immer. Manchmal passiert es, dass ich eine zehn Jahre alte Aufführung von mir höre - und dann erst wird mir plötzlich klar, was ich ändern muss. Man braucht diesen Abstand zu sich selbst. Das ist die Herausforderung für uns: im Moment des Musizierens Abstand zu sich selbst zu haben. Denn wir sind ja nur ein Teil von etwas sehr viel Größerem.

Das Gespräch führte Bernhard Neuhoff für BR-KLASSIK.

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