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Kritik – Krill Petrenko mit Smetana in Wien Kampf und Tanz

Am 3. Oktober gastierte das Bayerische Staatsorchester unter Kirill Petrenko im Wiener Konzerthaus. Auf dem Programm: Bedřich Smetanas Tondichtungen-Zyklus "Má Vlast" – "Mein Vaterland". Petrenko gelang es, die Dramatik dieser Musik zu betonen, ohne sie plakativ wirken zu lassen. Folgerichtig war das Wiener Publikum begeistert.

Kirill Petrenko und das Bayerische Staatsorchester nach ihrem Konzert in Wien am 03.10.2019 | Bildquelle: Wilfried Hösl

Bildquelle: Wilfried Hösl

Die "Moldau" von Friedrich Smetana kennt jeder Klassikfan – aber den Zyklus, aus dem sie stammt, hört man nur äußerst selten im Konzert. Noch seltener hört man ihn so ausgefeilt wie vom Bayerischen Staatsorchester unter Kirill Petrenko im Wiener Konzerthaus. Das hat Gründe: "Má vlast" – "Mein Vaterland", so heißt die Reihe von sechs Symphonischen Dichtungen, mit denen Friedrich – nein Bedřich – Smetana seinem Heimatland huldigte. Tschechien stand seit Jahrhunderten unter österreichischer Fremdherrschaft. Deutsch war die Sprache der Gebildeten. Auch der glühende Patriot Smetana war deutschsprachig aufgewachsen. Das Tschechische musste er als Erwachsener erst mühsam erlernen. Bis Mitte 30 sprach er im Alltag Deutsch, die Sprache der verhassten K.-u.-k.-Monarchie. Und wie das so ist – je weniger selbstverständlich eine Sache, desto mehr muss man sie betonen. Der Patriotismus in "Má Vlast" ist ziemlich laut. Und nicht jede der sechs Symphonischen Dichtungen hält so viele Zwischentöne bereit wie die beiden bekanntesten Nummern, die "Moldau" und "Aus Böhmens Hain und Flur".

Muskulös, aber nicht fett

Kiril Pentrenko hat damit offenbar kein Problem. Er nimmt die Musik ganz offensiv bei ihren Stärken. Da ist zum einen die schiere Energie: Es wird viel gekämpft und gerungen fürs Vaterland. Da gibt es die Hussitenkrieger mit ihren obsessiv wiederholten Choralmotiven. Oder die blutrünstigen Amazonen aus den mythischen Sagen der Vergangenheit. Muskulös ist der Orchesterklang im forte, durchaus auf Überwältigung angelegt, aber nie fett. Vorwärtstreibende Tempi nehmen dieser oft ziemlich massigen Musik alles Schwerfällige und Grobe. Dass die beiden abschließenden Sätze "Tábor" und "Blaník" bei weitem nicht so inspiriert und differenziert sind wie etwa die "Moldau", daran kann allerdings auch ein Petrenko nichts ändern.

Rhythmische Raffinesse, akkurates Zusammenspiel

Kirill Petrenko, Luzern | Bildquelle: Christoph Brech Kirill Petreno dirigiert das Bayerische Staatsorchester | Bildquelle: Christoph Brech Aber es wird ja zum Glück nicht nur gekämpft, sondern auch sehr viel getanzt in Smetanas "Vaterland". Und hier ist Petrenko ganz in seinem Element. Rhythmische Raffinesse, akkurates Zusammenspiel, dabei immer federnd und flexibel, idiomatisch im Ton ohne jeden klischeehaften Schmäh: Schöner kann man das nicht machen, authentischer hat das (soweit man es als Deutscher beurteilen kann) auch ein Rafael Kubelík nicht dirigiert. Mit Kubelík teilt Petrenko die Vorliebe für straffe Tempi und tänzerischen Schwung mit relativ wenigen, aber wirkungsvollen Temposchwankungen. Und den Mut, nicht nur Verzögerungen zu zelebrieren, sondern das Tempo auch mitreißend zu beschleunigen. Das gehört überhaupt zu Petrenkos großer Kunst: der stets vorwärtstreibende Puls, das innere Gefälle, das er der Musik verleiht. Auch wenn das Tempo stabil ist, hat man immer das Gefühl, dass die Musik vom Fleck kommen will, dass sie nicht "steht".

Exemplarische Interpretation

Für lyrische Passagen gilt das womöglich noch mehr. Schließlich ist das Fließen, das Gefälle, die vorwärtstreibende Kraft ja das Thema im lyrischsten der sechs Sätze, der "Moldau". Smetana hat mit diesem Welthit eine Art Ikone des Tschechentums geschaffen – und zugleich ein musikalisch und narrativ unwiderstehlich attraktives Stück Musik. Der Reiz an dieser musikalischen Flusslandschaft mit politischem Horizont ist seine doppelte Lesbarkeit: Man kann diese Musik ganz "unschuldig" als Schilderung von Natur und Landschaft verstehen. Dann freut man sich am Murmeln der Quellen, am ländlichen Fest, am Anschwellen des Flusses und den dramatischen Stromschnellen. Petrenko verbindet in seiner Interpretation lustvolle Aufmerksamkeit aufs Detail mit untrüglichem Gespür für die übergeordnete Dramaturgie. Und auf die kommt es an. Man kann das Stück nämlich nicht nur als sinnfällige Klangmalerei verstehen, sondern auch als Gleichnis für den Weg und das Schicksal des tschechischen Volkes, das um Freiheit und Selbstbestimmung kämpft. Wie politisch diese von Kindern geliebte, oft als naiv pittoresk unterschätzte Musik eigentlich ist, wurde im gestrigen Konzert unmittelbar einleuchtend. Möglich ist das nur in einer Gesamtaufführung des Zyklus‘. Schon allein dafür nimmt man auch die Durststrecken in den schwächeren Sätzen in Kauf. Und wird belohnt durch großartige Entdeckungen in den weniger bekannten. Etwa das flirrende Fugato in "Aus Böhmens Hain und Flur". Oder die harmonischen Kühnheiten in "Sárka". Das Wiener Publikum bedankte sich für diese exemplarische Interpretation mit euphorischem Applaus.

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