BR-KLASSIK

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Salzburger Festspiele

20. Juli bis 31. August 2023

Kritik – Petrenko und die Berliner Philharmoniker in Salzburg Packende Musik-Dramen

Startschuss für eine neue Ära: Am 23. August gab Kirill Petrenko bei den Berliner Philharmonikern sein umjubeltes Antrittskonzert als neuer Chefdirigent. Auf dem Programm, passend zum feierlichen Anlass, die Neunte von Beethoven. Tags darauf gab's die Neunte noch einmal vor dem Brandenburger Tor – zum Jubiläum 30 Jahre Mauerfall. Zum Auftakt einer kleinen Festival-Tournee gastierten Petrenko und die Berliner mit zwei Konzerten bei den Salzburger Festspielen.

Kirill Petrenko | Bildquelle: Wilfried Hösl

Bildquelle: Wilfried Hösl

Die Kritik zum Anhören

Kaum war der letzte Fortissimo-Schlag von Beethovens Neunter Symphonie verklungen, gab es einen kollektiven Aufschrei im Publikum. Wie elektrisiert riss es das Publikum im Großen Festspielhaus von den Sitzen: Standing Ovations für Kirill Petrenko und sein neues Orchester. Tatsächlich hatten sich die Berliner Philharmoniker für seinen furiosen Beethoven mächtig ins Zeug gelegt. Vibrierend vor Energie und mit tänzerischer Eleganz führte Petrenko seine Musiker durch die kolossale Partitur.

Messerscharfe Artikulation

Aber der Schluss-Jubel ist ja nur die eine Seite von Beethovens Bekenntniswerk. Schon zu Beginn lässt Petrenko die zuckenden Rhythmen über dem gläsernen Quintklang messerscharf artikulieren. Immer wieder gibt er seinen fantastischen Holzbläsern Raum für kammermusikalische Soli: dem Flötisten Emmanuel Pahud, dem Oboisten Albrecht Mayer, dem Klarinettisten Andreas Ottensamer. Die von Beethoven im Scherzo geforderte aberwitzige Virtuosität muss dem Hornisten Stefan Dohr erstmal jemand nachmachen. Im überirdisch schönen Adagio dürfen sich dann die Streicher aussingen – Vibrato ist durchaus erlaubt.

Die historische Aufführungspraxis ist Petrenkos Sache eher nicht – muss ja nicht sein. Es geht auch anders.

Mittelweg zwischen traditionell und historisch informiert

Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker nach einem Konzert auf den Salzburger Festspielen im August 2019 | Bildquelle: Stephan Rabold / Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker nach einem Konzert bei den Salzburger Festspielen im August 2019 | Bildquelle: Stephan Rabold / Berliner Philharmoniker Mit gewohntem Detailreichtum und der ihm eigenen Genauigkeit geht Petrenko zur Sache. Zügig, aber nie so rasant und vehement wie Teodor Currentzis, der seinen Salzburger Beethoven-Zyklus letzten Sommer teilweise ohne Rücksicht auf Verluste durchgepeitscht hatte. Die historische Aufführungspraxis ist Petrenkos Sache eher nicht – muss ja nicht sein. Es geht auch anders: Er wählt den heute gängigen Mittelweg zwischen traditioneller und historisch informierter Spielweise. Da gibt es bei relativ großer Besetzung und modernem Instrumentarium eben auch den satten philharmonischen Sound. Aber kein hohles Pathos, keine Exzesse, keine Mätzchen. Petrenkos ehrliches Musizieren überzeugt. Und wer den ominösen "deutschen Klang" unter Simon Rattle bei den Berlinern vermisst haben sollte, dürfte bei Petrenko eher auf seine Kosten kommen – der Rest ist Geschmackssache.

Marlis Petersen als Lulu: Statement weiblicher Selbstbehauptung

In seinen beiden Tournee-Programmen bricht Petrenko erfreulicherweise eine Lanze für die Zweite Wiener Schule. Beethovens populäre Neunte koppelte er mit den Symphonischen Stücken aus der unvollendeten Oper "Lulu" von Alban Berg, die beim Salzburger Festspielpublikum nur mageren Applaus ernteten. Wie in München 2015 war auch jetzt die charismatische Marlis Petersen Petrenkos Lulu, die deren zentrales Lied zum grandiosen Statement weiblicher Selbstbehauptung machte. Wie sehr ihm diese Musik liegt, zeigt Petrenko mit betörenden Streicherklängen, reichen Instrumentalfarben und raffinierten Abmischungen. Die Mahler-nahe Schönheit von Bergs Musik kulminiert im schockierenden Todesakkord der Lulu, den Petrenko mit aller Schärfe herausstellt.

Patricia Kopatchinskaja mit flammender Intensität

Patricia Kopatchinskaja, Geigerin | Bildquelle: Marco Borggreve Solistin in Schönbergs Violinkonzert: Patricia Kopatchinskaja | Bildquelle: Marco Borggreve Mit Arnold Schönbergs gefürchtetem Zwölfton-Violinkonzert ging's am nächsten Abend weiter, der zum weitaus spannenderen wurde. Auftritt der Geigerin Patricia Kopatchinskaja, wie immer barfuß und im bodenlangen karminroten Kleid. Mit raubtierhaftem Elan und flammender Intensität stürzt sich die Kopatchinskaja auf Schönbergs hochexpressive Klangsprache, meistert seine haarsträubenden Schwierigkeiten und grifftechnischen Gemeinheiten grandios. Ihr Klangspektrum reicht von fahl-geräuschhaften Tönen bis zu schrillen Attacken. Da verzehrt sich jemand rückhaltlos für die Musik, und Sinn für den schrägen Humor Schönbergs hat sie auch noch – eine tolle Performance. Und Petrenko, hier ganz kühler Pult-Stratege, steuert mit den Berlinern den typischen Schönberg-Sound bei, setzt schroffe Tutti-Blöcke zwischen Kopatchinskajas irrlichternde Klanggespinste.

Tschaikowsky: Unausweichliche Schluss-Apotheose

Höhe- und Schlusspunkt dieses Salzburger Gastspiels: die Fünfte Symphonie von Peter Tschaikowsky. Da ist Petrenko ganz in seinem Element – das fatalistische Stück wird bei ihm zum packenden Musik-Drama. Petrenko kostet den samtig-runden Streicherklang der Berliner Philharmoniker aus, baut kraftvolle Steigerungen auf, lässt das strahlende Blech triumphieren. Das hat alles enormen Zug bei Petrenko, da wird nichts ausgewalzt oder verzärtelt. Tschaikowskys tief empfundene Melodik trifft auf duftige Walzer-Atmosphäre und mündet in eine unausweichliche Schluss-Apotheose. Eine exemplarische Tschaikowsky-Interpretation. Kirill Petrenko wirkt entspannt an diesem Abend, ganz im Einklang mit seinen Musikerinnen und Musikern. Das könnte spannend werden – ein gelungener Einstand war es jedenfalls schon mal.

Petrenko und die Berliner Philharmonikerauf BR-KLASSIK

11. September, 20:05 Uhr – Festspielzeit
Berliner Philharmoniker auf dem Lucerne Festival

Solistin: Patricia Kopatchinskaja (Violine)
Arnold Schönberg: Violinkonzert, op. 36
Peter Tschaikowsky: Symphonie Nr. 5 e-Moll
Aufnahme vom 29. August 2019

03. Oktober, 20:05 – Konzertabend
Kirill Petrenkos Berliner Antrittskonzertskonzert vom 23. August

Alban Berg: "Lulu", Suite
Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 9 d-Moll

Sendung: "Leporello" am 27. August 2019 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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