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Kirill Petrenko in Berlin Auf Tuchfühlung mit dem Neuen

Das Bayerische Staatsorchester ist mit seinem Generalmusikdirektor Kirill Petrenko unterwegs auf Europa-Tournee. Eine Station war am Mittwoch die Philharmonie in Berlin. Spannung lag in der Luft - die Berliner erlebten den zukünftigen Chef ihrer Philharmoniker. Bernhard Neuhoff hat für BR-KLASSIK das "nachgereichte Bewerbungskonzert" begleitet - und bei den Proben einen äußerst gut gelaunten Dirigenten erlebt.

Kirill Petrenko mit Taktstock | Bildquelle: Wilfried Hösl

Bildquelle: Wilfried Hösl

Bernhard Neuhoff im Gespräch zu Petrenkos Besuch in Berlin

"An der Stelle bitte etwas schneller, wir sind da gestern ein bisschen eingeschlafen." Anspielprobe in der Berliner Philharmonie. Es ist kurz nach sieben, in knapp einer Stunde beginnt das Konzert, von dem so viel abhängt. "Also ganz direkt gesagt: nicht wir alle sind eingeschlafen, sondern die Bratschen." Heiterkeit im Orchesterplenum, humoristischer Protest in der Bratschengruppe. Am ersten Pult tut einer, als würde er gerade ein Nickerchen machen. Orchestermusiker auf Tournee sind manchmal wie Schüler auf Klassenfahrt. Nur dass der Pauker hinten sitzt.

Vorn freut sich Kirill Petrenko über den großen Erfolg seines kleinen Scherzes: "Das ist auch eigentlich ganz richtig so, wir müssen ja einschlafen, nur eben etwas später." Schließlich liegt die "Sinfonia domestica" von Richard Strauss auf den Pulten. In dieser überdrehten, abwechselnd wüsten und zärtlichen Musik wird - in maximalem Kontrast zu den bombastischen Mitteln - etwas ganz Alltägliches geschildert: das Familienleben des Komponisten, dargestellt in einer gut 40-minütigen, für alle Instrumente hochvirtuosen Sinfonischen Dichtung. Nachdem bei Familie Strauss das Kind ins Bett gebracht ist und der Papa noch ein wenig komponiert hat, gehen Richard und Pauline schlafen, und das muss man hören, nur eben an der richtigen Stelle.

Ein nachgereichtes Bewerbungskonzert

Sinn für Ironie hat Petrenko immer, aber so aufgekratzt ist er selten, erzählen die Musiker. Es ist ja nicht irgendein Konzert. Vor etwa einem Jahr hatten die Berliner Philharmoniker nach quälenden Diskussionen und einem gescheiterten ersten Wahlversuch Petrenko zu ihrem künftigen Chef gewählt. Das Orchester, tief gespalten zwischen Thielemann-Befürwortern und -Skeptikern, hatte sich schließlich doch noch geeinigt - auf einen Kandidaten, der im wichtigen angelsächsischen Markt noch immer wenig bekannt ist, öffentlichkeitsscheu, zu Ruhm gekommen nicht im sinfonischen Bereich, sondern als Operndirigent. Und der bis dahin nur dreimal zu Gast war bei den Berliner Philharmonikern.

Es gibt gar nicht so wenige Orchestermitglieder, die noch nie unter ihrem künftigen Chef gespielt haben. Klar, dass viele von denen nun im Publikum sitzen. Außerdem natürlich die Hauptstadtpresse, die Petrenkos Wahl keineswegs geschlossen begrüßt hatte. Ein nachgereichtes Bewerbungskonzert also - oder ein vorweggenommener Antritt, ganz wie man will, allerdings mit dem "falschen" Orchester.

Petrenko ist Musiker und Künstler, aber auch Musikant.
Diana Damrau

Orchesterprobe mit Kirill Petrenko in Mailand | Bildquelle: Christoph Brech, Bayerische Staatsoper Das Bayerische Staatsorchester auf Europa-Tournee: Probe in der Mailänder Scala | Bildquelle: Christoph Brech, Bayerische Staatsoper Doch das Wort Anspielprobe ist irreführend. Wie schon am Abend zuvor, als die Europatournee des Bayerischen Staatsorchesters nach Luxemburg geführt hatte, nutzt Kirill Petrenko die Gelegenheit, unermüdlich weiter an Details zu arbeiten. Diana Damrau, die am Vorabend wie auch schon in Mailand und Paris die "Vier letzten Lieder" von Strauss gesungen hat, sieht dieses stetige Verfeinern als "puren Luxus": "Natürlich testen wir die Akustik im Saal, aber wir feilen auch immer weiter. Da ist unser Petrenko groß drin. Dieses work in progress ist musikalisch für uns der Himmel. Er ist Musiker und Künstler, aber auch Musikant. Er geht alles mit großer Ehrfurcht vor den Komponisten an und mit sehr viel Liebe zum Detail, aber er lässt uns dann auch machen. Und das beflügelt einen."

Petrenkos freundliche Detailversessenheit

Bei Petrenko sind Konzerte Zwischenergebnisse. Er macht ganz praktisch Ernst mit dem von anderen Musikern rhetorisch so gern beschworenen Ideal, dass man sich großen Werken immer nur annähern kann. Seine freundliche Detailversessenheit ist dabei ebenso radikal wie pragmatisch. Natürlich sind das oft nur Kleinigkeiten, aber jede bringt ein hörbares Resultat. Viele Einzelheiten werden nur den Musikern selbst bewusst. Doch in der Summe entsteht aus den sorgfältig gesetzten Mosaiksteinen für den Hörer eine völlig neue Qualität im Gesamtbild.

Im Konzert selbst überlässt sich Petrenko dann einer Art kalkulierter Ekstase. Eigentlich ist er ja kein Windmacher. György Ligetis minimalistisches Klangzauberkunststück "Lontano", das sich über weite Strecken zwischen mezzopiano und kaum hörbaren pianissimo bewegt, hat er in Luxemburg mit ganz kleinen, präzisen, vom Publikum aus kaum sichtbaren Handbewegungen dirigiert. Ob es auch daran liegt, dass die Luxemburger eher verhalten reagieren? Auch die wunderbar leuchtende, perfekt fokussierte Pianokultur von Diana Damrau trifft auf allenfalls freundlich-unverbindlichen Applaus. Irgendwie wirkt dieses Publikum reserviert. Oder liegt es an der Programmfolge mit zwei sehr ruhigen Stücken zum Auftakt?

Er gibt nun alles, auch körperlich

In Berlin gibt es denn auch statt Strauss‘ "Vier letzten Liedern" als zweiten Programmpunkt das Violinkonzert Nr. 1 von Béla Bartók. Frank Peter Zimmermann spielt dieses spätromantische Frühwerk emotional berührend, mit Risikofreude und betörenden Farben. Und dann die Domestika.

Petrenko, der schon bei der Probe aufgedreht wirkte, dadurch vielleicht auch seine Nervosität überspielte, gibt nun alles, auch körperlich: Ausfallschritte nach vorn, Gesten über Kopfhöhe, weite Kreise mit der Linken. Bei heftigen Entladungen springt er federnd auf dem Pult nach hinten. Verhaltene Melodielinien, die von der Ersten in die Zweite Geige weitergereicht werden, zeichnet er liebevoll mit dem Zeigefinger nach.

Trotz aller Entäußerung zeigt er seinen Leuten immer exakt, was die Millisekunde geschlagen hat. Und er macht, was mindestens ebenso wichtig ist, sich und den Musikern immer klar, an welchem Punkt im Gesamtaufbau man gerade steht: Selten ist die formale Logik dieses orchestralen Ungetüms so durchsichtig geworden wie im gestrigen Konzert.

Erfolgreiche Überwältigungsstrategie

Der Jubel des Berliner Publikums, das im Gegensatz zum Luxemburger betont lässig gekleidet ist, fühlt sich ein bisschen so an wie die Akklamation eines neuen Herrschers durch das Volk. Und sicher tut man Petrenko kein Unrecht, wenn man ihm unterstellt, dass er es genau darauf angelegt hatte.

Dass er dann als Zugabe nach der gigantischen Domestika noch Wagners rauschhaftes Meistersinger-Vorspiel draufsetzt, macht die Überwältigungsstrategie komplett. Ehrensache für die Berliner Musikfans, die sich auf ihre Begeisterungsfähigkeit zu Recht etwas einbilden, dass man einfach weiterklatscht, als die Musiker schon von der Bühne gegangen sind, bis Petrenko noch einmal heraus kommt.

Die Berliner laden zum Bier

Die Berliner Philharmonie | Bildquelle: Schirmer/ Berliner Philharmoniker Die Berliner Philharmonie - zukünftiger Arbeitsplatz von Kirill Petrenko | Bildquelle: Schirmer/ Berliner Philharmoniker Hinter der Bühne laden die Berliner Philharmoniker die Münchner Kollegen jetzt noch auf ein Bier ein. Vorstand Ulrich Knörzer lobt das Bayerische Staatsorchester mit ehrlich wirkender Anerkennung. Und er sagt, was ein wenig gönnerhaft rüberkommt, dieses "fantastische Konzert" sei "auch ein kleiner Schritt in unsere Richtung und auch für Kirill Petrenko ein besonderer Abend. Da bin ich ganz sicher."

Die Berliner Philharmoniker, das ist mindestens ebenso sicher, sind ein Spitzenorchester, das seinen Wert sehr genau kennt. Auf Petrenko warten in Berlin ein begeisterungsfähiges Publikum und extrem selbstbewusste Musiker. Wenn es ihm gelingt, eine kritische Masse der Philharmoniker trotz aller vorangegangenen Streitigkeiten und Fraktionsbildungen hinter sich zu bringen, können das glanzvolle Jahre werden.

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