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Kritik - "Sweat of the Sun" bei der Biennale 2016 Im Kopf eines Besessenen

Es ging hysterisch und nervenaufreibend zu bei den Dreharbeiten zu Werner Herzogs Film "Fitzcarraldo" - mit Klaus Kinski im peruanischen Dschungel. Seine persönliche Sicht auf das Chaos hat Regisseur Herzog in Tagebüchern festgehalten. Sie sind die Inspiration für die erste Uraufführung, die am Samstag bei der diesjährigen Münchener Biennale gefeiert wurde.

Impressionen aus "Sweat of the sun" auf der Biennale München 2016 | Bildquelle: © Franz Kimmel

Bildquelle: © Franz Kimmel

Kritik - "Sweat of the Sun" bei der Biennale 2016

Im Kopf eines Besessenen

Das Münchener Kammerorchester schickt die ersten Klänge durch den Raum, da hat das Publikum noch nicht einmal Platz genommen. Einer von vielen Irritationsmomenten an diesem Abend? Offensichtlich. In der Mitte die Musiker, längst hochkonzentriert bei der Sache. Das Publikum rundherum - und zugleich eingekreist von vereinzelten Blechbläsern und Tischgitarristen. Irgendwann hat auch der letzte Zuschauer einen Platz gefunden. Von hinten dröhnt das Blech, vorne scharren die Streicher, die Sängerinnen und Sänger mittendrin. Großflächige Videoprojektionen zeigen ein Schiff, Dschungel, arbeitende Menschen: Ausschnitte aus der Doku "Burden of Dreams", die Les Blank 1982 während der Entstehung von Werner Herzogs Kultfilm "Fitzcarraldo" drehte.

David Fennessys Komposition: Viel Gesang, aber mehr gesprochener Text

Dann, in Nahaufnahme, die Protagonisten. Eine ganz in Weiß gekleidete Frau, mehr eine Lady, und im Zentrum - ja, wer eigentlich? Werner Herzog, Klaus Kinski, Fitzcarraldo himself? Wer weiß das schon? Ist auch nicht so wichtig an diesem Musiktheaterabend, in dem viel gesungen, aber noch mehr gesprochen wird. Die Protagonisten skandieren Zeilen aus Herzogs Tagebüchern "Die Eroberung des Nutzlosen". Dazu singt ein geloopter Caruso aus der Konserve. Ein Text, der eindringlich, rauschhaft, bildgewaltig ist. Eine Sprachwucht. Werner Herzog, der um sich selbst kreist und um seine Empfindungen am Set, im peruanischen Dschungel. Es sind seine Sätze, die Komponist David Fennessy und Regisseur Marco Štorman zu diesem sehr sinnlichen Musiktheater "Sweat of the Sun" inspiriert haben.

Zwischen Trance und Wahnsinn

Impressionen aus "Sweat of the sun" auf der Biennale München 2016 | Bildquelle: © Franz Kimmel Dennis Pörtner in "Sweat of the Sun" | Bildquelle: © Franz Kimmel Leise, bedächtige Bewegungen, musikalisch wie auch auf der von Jil Bertermann gestalteten Bühne, die eigentlich gar keine Bühne ist, sondern den gesamten Raum einnimmt, ihn ausfüllt, ihn zu einer Art Installation macht. Eine Stille, die die Kraft hat, einen in Trance zu versetzen. Doch der nächste Ausbruch ist nicht weit entfernt. Dennis Pörtner verkörpert in seiner namenlosen Herzog-Kinski-Fitzcarraldo-Rolle diesen Wahnsinn eindringlich und mitreißend. Während er anfangs noch ziemlich glattgebügelt und aufgeräumt dasteht, in seinem beigefarbenen Anzug, franst sein Charakter irgendwann aus in Chaos. Er robbt über den dschungelgrünen Boden, nur noch mit einer knappen Sporthose bekleidet. An seinem verschwitzten Körper überall Glitterschnipsel.

Alexander Liebreich dirigiert das Münchener Kammerorchester mit geschientem Bein

Dieser Musiktheaterabend ist voller Brüche. Irgendwann geht dann unvermittelt die Saalbeleuchtung an. Die Protagonisten tragen mittlerweile allesamt Sporthosen, wie damals Werner Herzog und sein Filmteam, die man an die Wand projiziert im Dschungel herumbolzen sieht. Und so machen es auch die Protagonisten hier in der Muffathalle. Irgendwann springt sogar ein Geiger des Münchener Kammerorchesters herbei, um mitzukicken. Wer nicht beim Ballspiel dabei sein kann an diesem Abend, ist Alexander Liebreich. Verletzungsbedingt auf der Ersatzbank sozusagen. Den ersten Teil des Musiktheaters bestreitet deshalb der erst 1993 geborene Sebastian Schwab, bevor Liebreich mit geschientem Bein das Dirigat übernimmt.

Vor allem auf musikalischer Ebene ergreifend

Komponist Fennessy und sein Team schicken uns in "Sweat of the Sun" in ein Wechselbad der Gefühle. Hier wird keine Geschichte erzählt oder gar nacherzählt, hier werden Empfindungen erfahrbar gemacht. Leere, Bedrohung, Wahnsinn. Gemeinsam mit dem Protagonisten entdeckt man über, durch und mit Klängen die Welt. Das ist nicht immer gleich fassbar, aber auf so vielen verschiedenen Ebenen ergreifend. Vor allem auf der musikalischen. Spannend auch die extra gebauten Instrumente, sogenannte Long Strings: Meterlange Klaviersaiten, gespannt auf Alubalken, die langsam von der Decke herab schweben, die Podien miteinander verbinden, und dann mit Bögen bearbeitet werden.

70 Minuten wie im Flug

Der Abend geht auf jeden Fall viel zu schnell vorbei. So diffus es angefangen hat, so klar ist "Sweat of the Sun" zum Ende hin. Niemals waren das 70 Minuten, meint man! Doch, tatsächlich, die Zeit verging nur wie im Flug. So sieht neues Musiktheater heute aus. So sollte es aussehen: kurzweilig, zwanglos, leidenschaftlich.

"Sweat of the Sun" bei der Münchener Biennale 2016

Weitere Aufführungen von "Sweat of the Sun" am 29./30./31. Mai - jeweils um 20:00 Uhr in der Muffathalle. Weitere Infos finden Sie auf den Seiten der Münchener Biennale.

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