Shakespeares Theaterstück "Der Sturm" ist sein letztes vollendetes Werk. Es erzählt von Verbannung, von der Flucht auf eine einsame Insel, von Machtgier, Neid, Rache und von einem wilden Sturm. Das Gärtnerplatztheater in München hat dieses Theaterstück nun in ein modernes Ballett verwandelt – choreographiert von der Norwegerin Ina Christel Johannessen, zu Musik unter anderen von Schnittke, Chopin und Gubaidulina. Ein Ballett, das den Sturm beim Wort nimmt.
Bildquelle: Marie-Laure Briane
Der mächtige eiserne Vorhang ist geschlossen. Felsen umrahmen einen schmalen Bühnenstreifen. Dahinter verborgen spielt ein Streichquartett mit Musikerinnen des Gärtnerplatzorchesters. Wilde Wellen peitschen gegen die dunkelgraue Vorhangwand. Bohrende Musik von Schnittke sorgt für ein beklemmendes Gefühl. In der Ferne taucht zwischen Gewitterwolken die Skyline einer Großstadt auf. Gegen diese Videoprojektion eines Unwetters stemmen sich zwei Tänzerinnen und ein Tänzer. Haare und Hemden sind klatschnass, die Beine nackt. Sie schlucken Wasser, ringen nach Luft, winden sich in den Fluten und kämpfen im Sturm um ihr Leben. Alles auf engstem Raum an der vordersten Kante der Bühne.
Das Bühnenbild von "Der Sturm" in sanftem Honiggelb. | Bildquelle: Marie-Laure Briane
Als sich der Vorhang hebt, retten sich die Tänzer in die honiggelbe Tiefe der Bühne unter einen langen, mannshohen Holzsteg. Überall bunte Plastikeimer, Kunststoffschläuche, undefinierbarer Müll. Eine der Tänzerinnen schmeißt ihr nasses Hemd in eine Tonne. Ihr entblößter Oberkörper schraubt sich nach oben, fällt in sich zusammen, reckt sich erneut und wirkt in seiner Nacktheit extrem verletzlich.
Um die Ballerina herum füllt sich die Bühne mit rennenden Tänzerinnen und Tänzern, mit panischem Schreien und einem französisch-deutsch-italienischen Sprachwirrwarr. Alle tragen Alltagsklamotten, Tanktops oder auch T-Shirts mit Aufschriften: "sleep", "awake", "wait", "dreamer" – Ein Basar? Ein Tsunami im Anmarsch? Eine Schar Fischer oder Flüchtlinge?
Wer ins Ballett geht, will sich von geschmeidigen Körpern eine Geschichte erzählen lassen, sich verzaubern lassen von filigranen Händen, superschnellen Füße und Känguru-leichten Sprüngen. "Der Sturm" hat nichts davon. Der Sturm ist verstörend, zerstörend. Der Sturm ist ein böser Zauber, der dabei realer nicht sein könnte. Das Ballett von Ina Christel Johannessen erzählt vom Ende der schönen Dinge und Gefühle. Es thematisiert Einsamkeit und die Zerstörung unserer zauberhaften Welt durch unsere Gleichgültigkeit und Gier.
Die norwegische Choreographin lässt dafür die Tänzerinnen und Tänzer im gleißenden Licht und im Gleichschritt durch die Wüste stapfen, dem Verdursten nahe. Lässt sie in planloser Panik Dinge von A nach B tragen und wieder zurück – und zeigt damit: Wohin auch immer wir unseren Mist schmeißen, am Ende bleibt doch alles auf dieser einzigen Erde!
In "Der Sturm" wird der menschliche Körper zur Metapher für die Zerstörung unseres Lebensraums. | Bildquelle: Marie-Laure Briane
Sorgfältig und sensibel hat die Choreographin Johannessen die Musik dazu ausgewählt. Von zutiefst berührend, wenn ein Knabensopran eine Barockarie singt, bis zu purem Psychostress, wenn das Akkordeon mit Blasebalg schnaufend in eine Komposition von Sofia Gubaidulina mündet. Dann ist es, als ob die Erde aus dem letzten Loch pfeift.
Ina Johannessen weiß, dass wir trotz aller Erkenntnisse der Wissenschaft ziemlich abgebrüht sind, was die drohende Klimakatastrophe angeht. Darum brüstet sich das Ballett "Der Sturm" auch nicht mit schwitzenden Eisbären. Im "Sturm" wird der menschliche Körper zur Metapher für die Zerstörung unseres Lebensraumes. Die Tänzerinnen und Tänzer machen mit jedem abgehackten, flehenden, sich windenden oder schlurfenden Schritt, mit jeder sanften, schneidenden oder wirbelnden Kopfbewegung die Katastrophe für uns sichtbar. Sie spüren die Vernichtung der Erde am eigenen Leib!
Mit dem "Sturm" zeigt das Ballett des Gärtnerplatztheaters einen 90 Minuten lang dauernden apokalyptischen Tanz. Dieser "Stepp auf der heißen Herdplatte" ist eine atemberaubende tänzerische und konditionelle Leistung, die einen, im gemütlichen Samtsessel hockend, nicht kalt lässt. Ob die üppigen Blumentöpfe und das damit verbundene heile-heile-Segen-Feeling im Finale des Balletts nicht ein bisschen dick aufgetragen ist, muss jeder selbst entscheiden. In jedem Fall lässt es Raum für einen Funken Hoffnung: Noch sind wir nicht vom Sturm verweht.
Sendung: "Allegro" am 27. Mai 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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