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Der Musikwissenschaftler Richard Taruskin ist tot Produktiver Polemiker

Musik ohne Welt, das war für ihn nicht denkbar. Richard Taruskin war ein Fan der Debatte – ob als Musikwissenschaftler oder -kritiker. Das machte ihn zur prominentesten Figur seines Fachs. Mindestens in den USA. Nun ist Taruskin im Alter von 77 Jahren gestorben.

Musikwissenschaftler Richard Taruskin | Bildquelle: University of California Press

Bildquelle: University of California Press

"Kunst ist nicht unschuldig", hat Richard Taruskin mal geschrieben. Und damit sein zentrales Credo auf den Punkt gebracht: Wer sich mit Musik beschäftigt, kann die Welt um sie herum nicht ausklammern – den sozialen und politischen Kontext, in dem sie entstanden ist. Und stattfindet.

Er hat die klassische Musik zurück in die Welt gebracht
Alex Ross über Richard Taruskin

Das klingt trivial. Ist es aber nicht. Zumal angesichts der immer wieder zu hörenden Beteuerungen von Musikerinnen und Musikern, es gehe ihnen nur um Musik. Auch und gerade jetzt – im Kontext des russischen Kriegs in der Ukraine.

Taruskin hat diese Naivität schon früh attackiert. Beklagte das "kulturelle und historische Vakuum", in dem man es sich in der klassischen Musikszene gemütlich mache. Und war einer der ersten, der sich kritisch mit dem klassischen Kanon beschäftigte, in ihm (auch) ein Produkt politischer Kräfteverhältnisse erkannte. Heute – in Zeiten der Wieder- oder Neuentdeckung marginalisierter Komponist*innen – erscheint diese These selbstverständlich. In den Siebzigern war sie es weniger.

Richard Taruskin – Musikwissenschaftler und Musikkritiker

Taruskin verteidigte diese Positionen in beiden seiner beruflichen Rollen. Sowohl an der Westküste, als Professor an der Berkeley University, als auch an der Ostküste, als Musikkritiker der New York Times. Gerade als Journalist wirkte Taruskin weit über die akademischen Grenzen hinaus. Stieß – nicht ohne Freude an der Polemik – immer wieder Debatten an. Etwa über die Idee historischer Authentizität, die er mit Verve (und einigem publizistischen Aufwand) verwarf. Oder über John Adams Oper "The Death of Klinghoffer", der er nach dem 11. September vorwarf, sie verherrliche Terrorismus und bediene antisemitische Klischees.

"Ob man ihm zustimmen konnte oder nicht, er hat einem immer das Gefühl gegeben, dass klassische Musik relevant ist", so wird Taruskins Kollege und Bewunderer Alex Ross im Nachruf der New York Times zitiert. Taruskin sei der wichtigste zeitgenössische Musikschriftsteller gewesen – sowohl was seine akademische als auch seine journalistische Tätigkeit betreffe, so Ross weiter.

Fokus auf russische und sowjetische Musikgeschichte

Geboren wurde Richard Taruskin 1945 in New York, wuchs dort in einer liberalen jüdischen Familie auf. An der Columbia University studierte er Musikwissenschaft und Russisch – zwei Fächer, die er bald verband. Zwar war Taruskin breit aufgestellt, veröffentlichte unter anderem eine 4000-seitige Geschichte der westlichen Kunstmusik ("Oxford History of Western Music"). Spezialisiert hatte sich Taruskin allerdings auf die russische und sowjetische Musikgeschichte. Vielleicht rührte auch daher sein waches politisches Bewusstsein. Immerhin ist das Werk von Komponisten wie Schostakowitsch oder Strawinsky nicht denkbar ohne die Zeitumstände, in denen sie entstanden sind.

Auch auf diesem Terrain war Taruskin meinungsstark unterwegs. Ausgerechnet zu dessen 100. Geburtstag im Jahr 1991, merkte er an, dass Prokofiev in seiner Musik auch stalinistische Propaganda betrieben habe. Den Vorwurf, er springe zu hart, ja empathielos mit seinem Gegenstand um, konterte er lapidar: Ihn kümmerten die Lebenden, nicht die Toten. Und auch jüngst, 2016, im Zusammenhang mit Julian Barnes Schostakowitsch-Roman "Der Lärm der Zeit" erhob Taruskin Einwände, störte sich vor allem an Barnes Zeichung von Schostakowitsch als heimlichem Dissidenten des Sowjetsystems.

Träger des Kyoto-Preis für Musik

Preise bekam Richard Taruskin zeitlebens einige. Nur der wichtigste sei hier erwähnt. Im Jahr 2017 wurde Taruskin als bislang einzigem Musikwissenschaftler der japanische Kyoto-Preis für Musik verliehen – wie vor ihm schon Messiaen, Cage, Boulez oder Ligeti.

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Message from Dr. Richard Taruskin - The 2017 Kyoto Prize Laureate in Arts and Philosophy | Bildquelle: Kyoto Prize (via YouTube)

Message from Dr. Richard Taruskin - The 2017 Kyoto Prize Laureate in Arts and Philosophy

Am Freitag ist der streitbare Musikwissenschaftler in Oakland, Kalifornien gestorben.

Sendung: "Allegro" am 4. Juli 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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