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James P. Johnson, Sidney Bechet und Clarence Williams Old Fashioned Love: Von der Broadway-Show über den Jazz zum Country

Vor 100 Jahren komponierte James P. Johnson für sein schwarzes Musical "Runnin‘ Wild” eine eingängige, volksliedhafte Melodie: "Old Fashioned Love". Sidney Bechet nahm den Song am 11. November 1923 auf. Beide konnten nicht ahnen, dass aus dem Song nicht nur ein Jazz-Standard, sondern auch ein Standard der Country-Musik werden würde.

v.l.n.r. Sidney Bechet, Clarence Williams und Louis Armstrong | Bildquelle: CBS

Bildquelle: CBS

Die Revue "Runnin‘ Wild", die vom 29. Oktober 1923 an in New York am Broadway lief, ist heute vor allem dank James P. Johnsons "The Charleston" in Erinnerung.  Durch ihn wurde aus einem vergleichsweise obskuren Tanz eine weltweite Modeerscheinung. Die Geschichte von "Old Fashioned Love" ist kaum weniger interessant.

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Old Fashioned Love | Bildquelle: James P. Johnson's Harmony Eight - Topic (via YouTube)

Old Fashioned Love

Johnson schrieb mit seinem Texter Cecil Mack einen schlichten Song mit großem Ohrwurm-Potential. Neu und frisch im Klang – und zugleich von einer Aura, die etwas Uraltes hatte. Ein Lied, dem nicht anzuhören ist, ob es aus der schwarzen oder aus der weißen Tradition stammt. Es könnte ein Volkslied sein, ja mit anderem Text sogar ein Kirchenlied! Den Weg dazu wies wohl W.C. Handys "Loveless Love", das selbst auf einem alten Volkslied basiert; Handy führte es in seinem Verlag als "Blues Novelty".  Blues-Interpreten griffen es dankbar auf, obgleich sie erst das entsprechende Blues feeling einbringen müssen, um es zu einem Blues umzugestalten. In der Tat wurde "Careless Love" nicht nur ein Erfolg im Jazz, sondern auch im Folk (Pete Seeger), Rock (Janis Joplin), Soul (Ray Charles) und  Bluegrass (Flatt & Scruggs). Den Erfolg dieses zwei Jahre älteren Handy-Songs konnte James P. Johnson nicht vorhersehen, doch sein Old Fashioned Love" ist nicht nur in einem ähnlichen "Volkston" gehalten, sondern weist auch Parallelen in der Melodie und im harmonischen Verlauf auf. Ein ähnlicher, wenn auch nicht so breiter Erfolg als Crossover-Hit war vorprogrammiert. Johnson war sogar einer der ersten Interpreten von "Loveless Love":

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W. C. Handy Loveless Love 1921 James P. Johnson piano roll p/b Artis Wodehouse | Bildquelle: Artis Wodehouse (via YouTube)

W. C. Handy Loveless Love 1921 James P. Johnson piano roll p/b Artis Wodehouse

Clarence Williams und Eva Taylor: Der Tausendsassa und die Nachtigall

Im Verlauf des Jahres 1923 wurden Jazzmusiker immer geschäftstüchtiger: Sie waren nun nicht mehr, wie einige Jahre zuvor in New Orleans, nur Teil einer lokalen Folklore-Szene waren, sondern gehörten gerade in New York zur Unterhaltungsindustrie. Ein Paradebeispiel dafür ist Clarence Williams. Der Afroamerikaner war Pianist, Komponist, Promoter, Bandleader, Produzent und Verleger. Seine Visitenkarte wies ihn als Erfinder von Jazz und Boogie aus. Clarence Williams besaß mehrere Musikgeschäfte, arbeitete für Plattenfirmen als Talentscout - und wirkte mit vielen bedeutenden Musikern seiner Zeit zusammen, etwa für Aufnahmen mit dem Trompeter Thomas Morris und den Sopransaxophonisten Sidney Bechet. Er schwamm auf der damaligen Blueswelle mit, begleitete nicht nur jede erdenkliche Bluessängerin, sondern war auch mit einer verheiratet: Eva Taylor. "The Dixie Nightingale", wie sie zu Beginn ihrer Karriere vermarktet wurde, gehörte in den 20er Jahren zu den meistaufgenommenen, afroamerikanischen Sängerinnen und hatte damals sogar eine eigene Radioshow. Eva Taylor war eine ausgezeichnete Sängerin und keineswegs auf den Blues beschränkt. Sie sang Jazz im weitesten Sinn, aber verschmähte auch nicht Walzer oder Volkslieder. Sie nahm mit Williams am 10. November 1923 zusammen mit ihrem männlichen Konterpart Lawrence Lomax die erste Vokalversion auf, die eher auf Revue-Besucher als auf Jazzfreunde abgestellt war.

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Old Fashioned Love | Bildquelle: Eva Taylor - Topic (via YouTube)

Old Fashioned Love

Sidney Bechet: Der Vater des Sopransaxophons

Besonders viel kaufmännisches Geschick zeigte Williams‘ Verfahren, am gleichen Tag auch eine instrumentale Version desselben Stücks aufzunehmen. Zum Glück stand ihm Sidney Bechet zur Seite: ein junges Genie, das 1922 aus Europa zurückgekehrt war und das Sopransaxophon als sein neues Hauptinstrument mitgebracht hatte. Seine unübertroffene Ausdrucksstärke und Virtuosität auf diesem Instrument stellten 1923 nicht nur sämtliche Saxophonisten in den Schatten. Es konnten überhaupt nur sehr wenige Jazzmusiker, unabhängig vom Instrument, mit ihm mithalten. Der traditionelle New Orleans Jazz basierte auf dem Ideal des Kollektivspiels. Dieses Konzept durchbrach Bechet, der erste bedeutende Solist des Jazz, einfach dadurch, dass er die anderen Musiker überstrahlte. Daher wirken auch die Aufnahmen mit Clarence Williams, seinem langjährigen Bekannten aus der Kindheit in New Orleans, nur oberflächlich wie authentischer New Orleans Jazz. Bechet tritt in ihnen so stark hervor, dass wir schlichtweg einen glänzenden Solisten mit Begleitung hören. Selbst Louis Armstrong sticht in seinen frühen Aufnahmen von 1923 nicht so deutlich hervor. Es sei angemerkt, dass das Saxophon sonst im traditionellen New Orleans Jazz keine Rolle spielte. Am Ende von "Old Fashioned Love" präsentiert Sidney Bechet ein eindrucksvolles 32-taktiges Solo. Bereits zuvor, während der Vorstellung der Melodie, im Hintergrund von Trompete und Posaune, zeigt Bechet eine erstaunliche Virtuosität. Der Komponist und Jazzhistoriker Gunther Schuller beschreibt das so: "Er scheint über dem Beat zu schweben und nur gelegentlich mit ihm zusammenzufallen; es ist die Quintessenz des melodischen Blues (…). Und  swingt auf eine Art und Weise, die den meisten Musikern dieser Zeit noch nicht möglich war."

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Old Fashioned Love | Bildquelle: Young Sidney Bechet - Topic (via YouTube)

Old Fashioned Love

Bechet und Johnson – Zwei, die sich nicht immer verstanden

Wer sich nur an Platten hält, übergeht Wesentliches. Daher ist kaum bekannt, dass Bechet und Johnson schon 1924 zusammenarbeiteten. Doch Bechet fühlte sich vom Pianisten und Komponisten arg eingeengt: "Johnson … war ganz für diese großen Arrangements, nahm immer weitere Musiker dazu… – all dieses Zeug, das dem Musiker keinen Spielraum mehr lässt und keine Möglichkeit, sich auszudrücken. … Kennst du … von vornherein jede Note, die du spielen wirst, und auch grad noch die Art, wie du sie spielen wirst, dann brauchst du keine Gefühle mehr zu haben. Und wenn du aber Gefühl hast, dann kannst du es nicht umsetzen. Du kannst nicht einmal mehr dein Interesse wahren. Für derartige Musik könntest du geradewegs eine Maschine arbeiten lassen, statt selber zu spielen." Nichts von dieser überarrangierten Herangehensweise findet sich in einer gemeinsamen Aufnahme von "Old Fashioned Love" von 1947.

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"Old Fashioned Love" Bechet Mezzrow Feetwarmers 1947 | Bildquelle: Jazzguy1927 (via YouTube)

"Old Fashioned Love" Bechet Mezzrow Feetwarmers 1947

Mit Bob Wills Am Beginn: Western Swing

Hunderte Jazzversionen könnten genannt werden, etwa die 1957-er des Saxophonisten Benny Carter, der 1924 in der Band von Johnson und Bechet gearbeitet hatte. Doch am Schluss möge Bob Wills stehen, der 1935 mit seinen "Texas Playboys" den "Western Swing" aus der Taufe hob und für eine seiner ersten Platten "Old Fashioned Love" wählte. Damit fand das von Roy Acuff, Merle Haggard, Willie Nelson und vielen anderen interpretierte Stück eine Heimstadt in der Country-Musik. Und andere alte Country-Hits wie "There's a Bridle Hangin on the Wall" ("Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand”) sind in ihrer Melodik Geschwisterstücke von "Careless Love" und "Old Fashioned Love". Doch das ist eine wieder ganz andere Geschichte.

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Bob Wills sings two   Old Fashioned Love & 4 Or 5 Times Sept  1935 first session | Bildquelle: radiobob805 (via YouTube)

Bob Wills sings two Old Fashioned Love & 4 Or 5 Times Sept 1935 first session

Sendung:

30. November 2023 BR-Klassik, 23.05 – 0.00
All That Jazz mit Marcus Woelfle: Eine Chronik des Jazz (35): "Charleston Crazy" - Aufnahmen von November und Dezember 1923

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