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Sir Simon Rattle beim BRSO Ein Konzert für Orchester – "Siegfried" konzertant

Für Simon Rattle ist es atemberaubend, wie weit Richard Wagner bei "Siegfried" musikalisch geht. Manches sei so experimentell, dass selbst Wagner es nie wieder gemacht habe. Und genau das ist bei einer konzertanten Aufführung zu hören, wenn das Orchester nicht im Graben versteckt ist. Am 3. und 5. Februar dirigiert Simon Rattle das BRSO in der Münchner Isarphilharmonie. Er sagt: Über weite Strecken sei "Siegfried" ein Konzert für Orchester.

Sir Simon Rattle | Bildquelle: Astrid Ackermann

Bildquelle: Astrid Ackermann

"Siegfried" konzertant

Interview mit Simon Rattle

BR-KLASSIK: Siegfried gilt als der Held schlechthin. Aber ist er nicht eigentlich eher ein Antiheld? Macht er nicht alles falsch? Und ist er nicht ziemlich dumm? Und dann auch noch ein Verräter.

Sir Simon Rattle: Oh, ich würde sagen: Er ist kein komplizierter Charakter. Aber die Situation ist kompliziert! Wir haben ja diese herausragende Sängerbesetzung. Simon O’Neill ist unser Siegfried. Und er sagte zu mir: "Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich mag!" Da hab ich ihm geantwortet, auch wenn das Stück alle Merkmale einer großen Oper des 19. Jahrhunderts hat, ist diese Figur doch letztlich nichts anderes als ein in die Höhe geschossener Teenager! Er ist ganz auf sich gestellt, versucht, sich selbst zu finden. Und Siegfried hat auch diese sehr nachdenkliche Seite: 'Was ist ein Vater? Was ist eine Mutter? Ich hatte nie Eltern! Stirbt jede Mutter, wenn sie ein Kind bekommt? Bin ich ein Mörder, einfach nur, weil ich geboren wurde? Was bedeutet es, eine Familie zu haben? Und was heißt das – erwachsen sein?' Und das ist faszinierend.

Crash-Kurs: "Siegfried" von Richard Wagner

Darum geht es in der Oper "Siegfried" von Richard Wagner.

BR-KLASSIK: Es gibt wahnsinnig moderne Musik - gerade bei den unsympathischen Figuren. Das ist bei Wagner generell so: Die negative Figur Beckmesser hat die modernere Musik als der positive Held Stolzing in den "Meistersingern". Und hier im "Siegfried" ist es Mime. Denn um Mimes Angst darzustellen, erfindet Wagner harmonisch unglaubliche Dinge!

Portrait Richard Wagner | Bildquelle: picture alliance / imageBROKER | Heinz-Dieter Falkenstein Porträt Richard Wagner | Bildquelle: picture alliance / imageBROKER | Heinz-Dieter Falkenstein Sir Simon Rattle: Ja, das ist atemberaubend, wie weit er da geht. Und beim Proben dieser Passagen hatte ich den Gedanken: Wenn man raten müsste, welcher Komponist das ist und in welchem Jahrhundert das geschrieben wurde, dann könnte man meilenweit danebenliegen! Manches ist so experimentell, dass selbst Wagner es nie wieder gemacht hat. Und gerade das hört man erst so richtig in einer konzertanten Aufführung, wenn das Orchester nicht im Graben versteckt ist. Denn über weite Strecken ist es ein Konzert für Orchester. Und sehr oft ein Konzert für die tiefen Instrumente! Und das war völlig neu. Etwa im zweiten Akt, wenn Alberich an der Drachenhöhle wartet: Die einzige erkennbare Melodie wird von der Pauke gespielt! Es gibt kein anderes Stück, wo die Pauke so sehr zu einer Hauptfigur wird. Er hat manche Instrumente sozusagen neu erfunden, um diese Welt zu erschaffen. Für uns ist das eine faszinierende Reise. Man hört alles, jede Regung in der Psyche der Figuren, im Orchester!

Wagner-Opern ohne Regie, Bühne und Kostüme

BR-KLASSIK: Sie haben den "Ring" auch schon szenisch gemacht. Macht es Ihnen jetzt sogar mehr Spaß ohne Inszenierung? Es klingt fast so!

Sir Simon Rattle: Kommt drauf an. So viele Dinge bleiben ungesagt im Text und im Gesang. Und dieses Ungesagte wird eben immer vom Orchester erzählt. Und wenn man die Musiker sieht, ist das einfach aufregend. Ich muss allerdings sagen, dass ich selbst nie eine konzertante Aufführung des "Siegfried" gesehen habe. Ich habe den ersten Akt konzertant dirigiert, aber nie eine komplette Aufführung mit dem Orchester auf der Bühne erlebt. Und der Eindruck ist natürlich ein ganz anderer! Denn sehr oft sprechen die Instrumente mit den Sängern.

BR-KLASSIK: Regisseure sind ja auch sehr oft ein bisschen die Konkurrenten der Dirigenten.

Sir Simon Rattle: Das sollten sie eigentlich nicht sein. Aber als ich diese vier Harfen am Bühnenrand sah, dachte ich: Meine Güte! Wenn ich Regisseur wäre, würde ich diese vier Harfen die Burg Walhall darstellen lassen! Und es gibt so viele Situationen, in denen würde ich die Sänger ins Orchester gehen lassen und dann würden sie zu den Instrumenten sprechen. Oder umgekehrt: Die Musiker müssten auf die Bühne gehen und mit ihren Instrumenten zu den Sängern sprechen. Denn die ganze Psychologie steckt im Orchester. Sehen Sie, man kann Siegfried tatsächlich als einen aufgeblasenen, wichtigtuerischen, unmöglichen Typ sehen. Aber das Orchester sagt das Gegenteil. Es zeigt uns das nachdenkliche Innenleben, das er hat – wie jeder Teenager. Da gibt es auch eine große Einsamkeit und viele Zweifel. Und da gibt es sehr viel mehr Musik, die von Schubert herkommt, als man glauben möchte.

So viele Dinge bleiben ungesagt im Text und im Gesang. Und dieses Ungesagte wird eben immer vom Orchester erzählt.
Sir Simon Rattle

BR-KLASSIK: Sie finden diese Figur also doch auch durchaus sympathisch?

Dirigent Sir Simon Rattle. | Bildquelle: BR/Astrid Ackermann Dirigent Sir Simon Rattle | Bildquelle: BR/Astrid Ackermann Sir Simon Rattle: Seltsamerweise, ja. Je mehr ich ihn kennen lerne. Es ist faszinierend. Wir haben wirklich fantastische Sänger, und manche von ihnen übernehmen ihre Rolle zum ersten mal. Georg Nigel als Alberich – er hat das nie gemacht. Das Großartige ist: Ich konnte ihm sagen, dass er so weit gehen kann, wie er möchte. Er hat die Lizenz zum Töten. Das einzige, woran ich Georg erinnern musste, schau, Alberich ist nicht NUR dunkel. An diesem Punkt der Handlung hat er sich dahin entwickelt, aber im Rheingold ist er noch ganz anders, manchmal glücklich wie ein Kind! Diese Figur hat auch die Möglichkeit, sich zu freuen. Selbst bei Mime gibt es die Möglichkeit zu einer Art von Mitleid oder Einfühlungsvermögen. Klar, mit keiner dieser Figuren würden Sie gern in den Urlaub fahren… Weder mit Siegfried, noch mit Brünnhilde. Am ehesten noch mit dem Waldvogel (lacht). Alle diese Figuren sind komplex, schwierig und dunkel. Und sie alle sind Erscheinungsformen dieses unmöglichen Menschen Richard Wagner. Unmöglich und brillant! Ein Genie als Komponist. Er musste erst lernen, was andere Komponisten als Talent mitbringen, das Handwerk. Aber geboren wurde er als Genie – eine seltsame Dichotomie.

"Siegfried" mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Verfolgen Sie die konzertante Opernaufführung mit Sir Simon Rattle und dem BRSO live aus der Münchner Isarphilharmonie: Am 3. Februar 2023 ab 17.05 Uhr auf BR-KLASSIK oder kaufen Sie Karten für die Konzerte am 3. und 5. Februar in der Münchner Isarphilharmonie. Tickets sind hier erhältlich.

BR-KLASSIK: Aber seien wir ehrlich: Wenn diese Figuren nicht auch etwas in uns ansprechen würden und wir in ihnen nicht auch unsere eigenen dunklen Seiten wiedererkennen würden, würden sie uns nicht so faszinieren! Sie haben eben gesagt,  jeder Teenager macht so eine Phase durch – war das bei Ihnen auch so? Haben Sie auch mal rebelliert geben Ihren Vater?

Sir Simon Rattle: In mancher Hinsicht, ja. Heute erkenne ich, was ich damals nicht gefühlt habe, was mir damals unmöglich war. Und wir sind alle mangelbehaftete menschliche Wesen. Wagner am meisten! Er war ja nicht nur schwierig, sondern auch sehr empfindsam – allerdings vor allem in eigener Sache. Dieser Mann wusste sich nicht anders zu helfen, als transzendente Musik zu schreiben. Und in einem Stück, das so viele ausgefahrene Ellbogen hat und so viele scharfe Kanten, abgesehen von all seiner Schönheit, spürt man das ganz besonders. Denn er erkundet darin die condition humaine.

Dieser Mann wusste sich nicht anders zu helfen, als transzendente Musik zu schreiben.
Sir Simon Rattle über Richard Wagner

BR-KLASSIK: "Siegfried" gilt als der am wenigsten unterhaltsame Teil des Rings. Aber ich glaube, das ist ein Vorteil. Ich persönlich blühe immer auf, wenn die Erda-Szene kommt, denn das ist Musik, die er nach dem "Tristan" geschrieben hat. Er hat einen großen Teil des "Siegfried" vor dem "Tristan" geschrieben, dann hatte er eine Pause, und dann kam eben diese extreme Explosion von Kreativität und Modernität in der Tristan-Harmonik. Anschließend hat er den Siegfried wieder aufgenommen. Und ich finde man spürt das. Unglaublich vital, wie die Musik dann plötzlich eine ganz neue Farbe bekommt im dritten Akt.

Sir Simon Rattle: Ja, das stimmt. Der dritte Akt ist wie ein nordkoreanischer Atombombentest. Diese Explosion von Energie und Klang. Um es mal so zu sagen: Wagner war recht idealistisch in seinen Vorstellungen, mit welchen orchestralen Klangmassen ein Sänger es gerade noch aufnehmen kann. Man spürt, dass sich etwas gelöst hatte. Ein Damm war gebrochen. Plötzlich ist man zurück in dieser Wasserwelt, in der das Rheingold begonnen hatte. Ich glaube, niemand weiß wirklich, warum er eine so lange Pause machen musste zwischen der Komposition des zweiten und dritten Akts. Und ja, der dritte Akt führt weiter – hin zu dem, was an Musik noch kommen würde.

Sendung: "Allegro" am 1. Februar 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (3)

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Mittwoch, 01.Februar, 22:44 Uhr

Heinz Bartlmeier

Peinlich

... dass die Konzerte bei weitem nicht ausverkauft sind und Sie noch Werbung dafür machen müssen. Jetzt stellen Sie sich mal vor, es gäbe einen noch einen eigenen Konzertsaal für das BRSO und die Philharmoniker würden auch noch gleichzeitig ein Konzert geben. Da scheint noch nicht einmal Simon Rattle zu helfen.

Mittwoch, 01.Februar, 02:48 Uhr

Wolfgang

Eine angenehm differenzierte Sichtweise

Zum Berliner Thielemann-Einspringer-Ring wurde hier ja noch eine Kritik veröffentlicht, in der die schwachsinnigen Umerziehungsphrasen bezüglich Wagners Siegfried eine fröhliche Wiederauferstehung feierten: Proto-Nazi, gewissenloser Massenmörder, blonde Bestie etc.

Rattle ist hier wohltuend sachlich und empathisch.

Ich hoffe, er kann mit seiner Leistung an die vom "Rheingold" anknüpfen, die "Walküre" hatte mir nicht ganz so gut gefallen, was aber auch an den Sängern lag.

Mittwoch, 01.Februar, 02:38 Uhr

Wolfgang

Missverständlich

"Siegfried" gilt als der am wenigsten unterhaltsame Teil des Rings. Aber ich glaube, das ist ein Vorteil.

Normalerweise sind mir Tippfehler egal. Aber hier muss wohl "Vorteil" mit "Vorurteil" ersetzt werden.

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