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Krieg in der Ukraine Wie Musik für eine Familie zur Überlebensstrategie wird

Seit Beginn des Krieges ist im Leben der Musikerfamilie Zaitsev nichts mehr, wie es war. Nun versteht sie sich als Kulturbotschafter ihrer Heimat. Die Familie musiziert gegen den Krieg an und zeigt Europa den Reichtum der ukrainischen Musik.

Eine Fahne der Ukraine steckt vor Beginn eines Konzerts an einem Instrument des Kyiv Symphony Orchestra. | Bildquelle: picture alliance/dpa | Robert Michael

Bildquelle: picture alliance/dpa | Robert Michael

"Das war alles, was ich zum Krieg sagen wollte." In dem Film "Forrest Gump" ist dieser Satz der einzige, den das Publikum einer großen Anti-Vietnamkriegs-Demo versteht. Denn als Forrest Gump ans Mikrophon tritt, fällt der Strom aus. Er redet und redet, aber keiner versteht ihn. Als endlich der Strom wieder da ist, hört das Publikum nur noch die Schlussworte seiner Rede. Für die junge ukrainische Geigerin Elisabeth Zaitseva ist diese Szene ein passende Äußerung zum Krieg. "Man kann schreien, man kann erzählen, man kann beschreiben, aber es bedeutet trotzdem nichts. Um den Krieg zu beschreiben, kann man nur schweigen", so Zaitseva wörtlich.

"Einmal habe ich am Handy die Explosion gehört"

Blick auf den Maidan | Bildquelle: Bildrechte: Bryan Smith/dpa-Bildfunk Blick auf den Maidan in Kiew | Bildquelle: Bildrechte: Bryan Smith/dpa-Bildfunk Elisabeth Zaitseva stammt aus Kiew und studiert an der Musikhochschule Nürnberg. Ihre Eltern sind beide im "Kyiv Symphony Orchestra" tätig, Vater Oleksandr Zaitsev als Direktor, Mutter Tetyana Zaitseva als Geigerin. Die Erinnerungen an den Beginn des Kriegs in der Ukraine sind schmerzlich frisch und doch schwer in Worte zu fassen. Elisabeth Zaitseva hat sich sofort engagiert, hat bei Hilfsorganisationen mitgearbeitet, die Krankenwagen und Hilfsgüter in die Ukraine gebracht haben. Sie ist auf Demonstrationen gegangen, um auf die Not ihres Landes aufmerksam zu machen. Aber über allem schwebte die Sorge um ihren Vater, ihre Mutter und ihren damals zehnjährigen Bruder, die noch immer im schwer bombardierten Kiew waren. "Wir haben jede Stunde telefoniert", erzählt sie. "Einmal habe ich im Handy, als ich mit meiner Mama gesprochen habe, es war schon Anfang März, die Explosion gehört." Der Sprengkörper schlug direkt in das Feld neben dem Wohnhaus der Eltern ein. Da war klar, dass die Flucht unausweichlich ist. Mehrere Tage war Tetyana Zaitseva mit ihrem Sohn unterwegs, teils im Auto mit Bekannten, teils in Bussen, bis sie nach schweren Strapazen in Würzburg angekommen ist, wo ihre Tochter Alexandra lebt.

Was Kultur zur Unterstützung der Heimat beitragen kann

Vater Oleksandr Zaitsev musste wie alle Männer in der Ukraine bleiben. Seine Mission ist das Kyiv Symphony Orchestra, das er als Direktor leitet. Ihn treibt die Frage um, was das Orchester zur Unterstützung der Heimat beitragen kann. Und schnell wird im klar: Das Orchester muss spielen, es muss die oft wenig beachtete Musiktradition der Ukraine nach Europa bringen. Angesichts der Umstände in Kiew Anfang März eine mutige Vision – und eine wahre Herkulesaufgabe für das Management. "Die Idee kam mir spontan", sagt Oleksandr Zaitsev, "als ich am 8. März meine Frau und meinen Sohn auf ihrer Flucht in die Westukraine begleitet habe. Nach meiner Rückkehr nach Kiew gab es ein Online-Meeting von allen Intendanten und Direktoren der ukrainischen Orchester, Opernhäuser und Kultureinrichtungen mit dem Kulturministerium der Ukraine."

Blick auf die Eigenständigkeit der ukrainischen Musiktradition

Bei dieser Sitzung kam der Gedanke auf, dass es eine Art Kulturoffensive der ukrainischen Chöre und Klangkörper geben solle – vor allem auch, um dem Westen zu vermitteln: Es gibt eine eigenständige ukrainische Kultur- und Musiktradition, die Jahrhunderte alt ist und keineswegs nur ein Teilbereich der russischen Kultur ist, wie der Kreml gerne und ausdauernd behauptet. Dafür sollten eigens Programme entwickelt werden, in denen Künstlerinnen und Komponisten im Mittelpunkt stehen, die bisher im Westen noch zu wenig wahrgenommen worden sind – darunter der Mozartzeitgenosse Maxim Berezovsky, Borys Ljatoschynsky, der bedeutendste ukrainische Komponist der Sowjet-Zeit, oder der 1938 geborene Myroslav Skoryk.

Konzerttournee-Planung im Eiltempo

Das Kiewer Symphonieorchester | Bildquelle: Axinja Weyrauch Das Kyiv Symphony Orchestra (Kiewer Symphonieorchester) probt im Schützenhaus in Weissensee bei Füssen. | Bildquelle: Axinja Weyrauch Um Auslandsreisen der ukrainischen Klangkörper zu ermöglichen, sorgte das Kulturministerium für Ausnahmeregeln für die Männer, die normalerweise die Ukraine nicht verlassen dürfen. Sie bekamen Sondergenehmigungen für die Dauer der Konzertreisen - unter dem Vorbehalt, bei einer etwaigen Einberufung in die Armee sofort zurückzukehren. Aufgrund dieser Erlaubnis begann Oleksandr Zaitsev zu planen. Was unter normalen Bedingungen einen Vorlauf von ein bis zwei Jahren benötigt hätte, gelang mithilfe einer Konzertagentur in drei Wochen: Eine Tournee mit Konzerten in den wichtigsten Konzertsälen Deutschlands, darunter in der Hamburger Elbphilharmonie und in der Berliner Philharmonie. In den letzten Wochen war das Kyiv Symphony Orchestra in der Ferienanlage Reichenbach im Allgäu untergebracht. Unermüdlich gibt es Konzerte im süddeutschen Raum, aber die Zukunft ist ungewiss: In die Ferienanlage ziehen bald die Pfingsturlauber ein, und das Orchester bezieht neue Unterkünfte in Baden-Württemberg.

Die Stimme laut machen

Nach den ersten lähmenden Wochen voll Entsetzen direkt nach Kriegsbeginn ist die Musik für Elisabeth Zaitseva inzwischen zum wichtigsten Instrument ihres Engagements geworden. "Nach drei Wochen konnte ich wieder spielen", erzählt sie, "und da habe ich gemerkt, welche große Veränderungen der Krieg mit sich bringt. Auf allen diesen Demonstrationen musste ich einfach meine Stimme laut machen, meine Sprechstimme. Und da war meine Geigenstimme auch ganz anders. Ich habe dann viel freier gespielt, viel selbstbewusster, weil ich verstanden habe, wieviel Bedeutung, wieviel Verantwortung jetzt wir Ukrainer im Ausland haben: Dass ich meine Position äußere, dass es wirklich wichtig ist, dass ich als Künstlerin Botschafterin sein kann."

Auf kultureller Mission

Das ist die Mission der Familie Zaitsev: die kulturelle Stimme der Ukraine erheben. Elisabeth Zaitseva ist mit Beginn der Tournee zum Orchester ihrer Eltern dazu gestoßen. Eigentlich steht sie kurz vor ihrem Masterabschluss an der Musikhochschule Nürnberg. Ihr Professor Daniel Gaede versucht, ihr dieses Engagement so gut es geht, zu ermöglichen, der Unterricht findet meist online statt. Denn die Mission der Familie Zaitsev ist noch nicht beendet, solange Krieg herrscht. "Das ist mir etwa drei Wochen nach Anfang des Krieges bewusstgeworden: Ich muss Musik machen, einfach damit etwas Schönes da ist."

Partnerschaft der Jugendorchester

ARCHIV - 30.08.2004, Ludwigshafen: Die Dirigentin Oksana Lyniv dirigiert in der Staatsphilharmonie in Ludwigshafen. Lyniv hofft auf mehr Chancen für Frauen bei der Leitung von Orchestern. (Zu dpa "Dirigentin Lyniv: Frauen hinter dem Pult werden bald Normalität sein") Foto: Ronald Wittek/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Ronald Wittek Gründete das Jugendsymphonieorchester der Ukraine: die Dirigentin Oksana Lyniv. | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Ronald Wittek Auch Elisabeths Zwillingsschwester Alexandra Darian studiert Violine in Nürnberg und ist als Kultur-Botschafterin ihrer Heimat unterwegs: als Direktorin des ukrainischen Jugendsymphonieorchesters. Nach Beginn des Krieges gelang es ihr, einen Großteil der jungen Musikerinnen und Musiker nach Slowenien zu evakuieren. Das dortige Jugendorchester hat in Ljubljana ein Camp eingerichtet, wo die ukrainischen Jugendlichen leben können und auch weiterhin Unterricht erhalten. 2016 gründete die Dirigentin Oksana Lyniv das Jugendsymphonieorchester der Ukraine nach dem Vorbild des Bundesjugendorchesters. Seitdem sind beide Klangkörper partnerschaftlich verbunden und treffen sich immer wieder zu Projekten. So war etwa seit langem für Mai 2022 eine gemeinsame Arbeitsphase samt Auftritt im prachtvollen Opernhaus von Odessa geplant, mit Dozentinnen und Dozenten der Berliner Philharmoniker. Der Überfall auf die Ukraine und die brutalen Raketenangriffe auf Städte und Wohngebiete von Russland aus machten diese Pläne zunichte. Im Juli unternehmen die beiden befreundeten Jugendorchester stattdessen eine Benefiztournee, mit Konzerten in Berlin, Hannover und Köln.

Sendung: "Das Musikfeature" am 03. Juni 2022 ab 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Wiederholung: am 04. Juni 2022 ab 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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