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Venezuela - El Sistema-Musiker protestieren "Keiner will es Krieg nennen"

Nachdem in der vergangenen Woche der 17-jährige Bratschist Armando Cañizales bei Ausschreitungen ums Leben kam, hat nicht nur Venezuelas Stardirigent Gustavo Dudamel öffentlich das Regime von Nicólas Maduro kritisiert. In Caracas gehen immer mehr Mitglieder aus den Jugendorchestern von El Sistema auf die Straße.

Unruhen in Venezuela - Straßenkämpfe bei Demonstrationen in Caracas | Bildquelle: picture alliance / CITYPRESS 24

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In Venezuela beteiligen sich nun auch immer mehr Musiker an den seit April anhaltenden Protesten. Es sind Musiker, die der Regierung die Finanzierung ihrer Karriere verdanken, und die deswegen von vielen sogar als Kollaborateure des Regimes von Staatschef Nicólas Maduro abgestempelt wurden. Schließlich gelten die Jugendorchestern des staatlich geförderten Musikprojekts El Sistema als glänzendes Vorzeigeprodukt des Landes. Es sind Orchester, die durch die Welt touren, während zu Hause das Land zerfällt. Dass die meisten der jungen Musiker die Ideologie ihrer Regierung keineswegs gutheißen, wird besonders seit dem gewaltsamen Tod des Bratschisten Armando Cañizales deutlich.

Egal was schon alles Schlimmes im Land passiert ist. Wir haben einfach weitergeprobt.
El Sistema-Musiker aus Caracas

"Es ist furchtbar, was mit dem jungen Bratschisten passiert ist", sagt ein junger Musiker aus Caracas, der namentlich nicht genannt werden will. "Aber es war auch komisch, dass das ganze El Sistema sich jetzt plötzlich gegen die Regierung erhebt. Davor waren sie alle ganz ruhig, egal was schon alles Schlimmes im Land passiert ist. Wir haben einfach weitergeprobt. Aber jetzt ist die ganze Sache explodiert."

Todesopfer und Verletzte bei Protestwelle gegen Präsident Maduro

Unruhen in Venezuela - Straßenkämpfe bei Demonstrationen in Caracas | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com Seit Anfang April reißen die heftigen Zusammenstöße zwischen Polizei, Sicherheitskräften und Demonstranten in Venezuela nicht mehr ab. | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com Seit Wochen schon herrscht in Venezuela Ausnahmezustand. Die Menschen gehen auf die Straße, weil sie Hunger haben - und genug von der korrupten Regierung, die nur noch auf dem Papier demokratisch ist. Misswirtschaft und Korruption zerfressen die Gesellschaft, und die Inflationsrate hat bereits die 700-Prozent-Marke überschritten. Die Hauptstadt Caracas hat die höchste Mordrate der Welt. Hinzu kommen Todesopfer bei den gewalttätigen Demonstrationen: Offiziell sind in den letzten Wochen 37 Menschen ums Leben gekommen, hunderte wurden verletzt.

Die Angst vieler Musiker davor, wegen Kritik an der Regierung ihren Job zu verlieren, rückt jetzt in den Hintergrund. Solidaritätskampagnen in den sozialen Netzwerken überfluteten am Tag nach dem Tod des Bratschisten das Netz. Auch Dirigenten und Mitglieder der Presseabteilung, die sonst eher für die Zensur der Musiker gegenüber Reportern zuständig sind, waren beteiligt und kritisierten nun offen das Vorgehen der Regierung.

Protest auch im Musikzentrum von El Sistema im Osten Venezuelas

Der gewaltsame Tod ihres "compañeros" war vielleicht der Auslöser, aber nicht die einzige Ursache für den nun offenen Protest der Musiker. Die täglichen Strapazen sind für viele schwer zu ertragen. Auch fernab von der chaotischen Hauptstadt Caracas droht die Situation zu eskalieren. In der Industriestadt Ciudad Guayana, im Osten des Landes, ist das Musikzentrum von El Sistema schon seit einiger Zeit lahmgelegt. Wegen der Demonstrationen, die in der Nähe der Probenräume stattfinden. Und weil die Musiker selbst streiken.

Proben bei "El Sistema" dem Jugendorchester in Caracas, Venezuela | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die staatlich geförderten Jugendorchester von El Sistema sind Venezuelas Vorzeigeprojekt Nr. 1. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Ein Geiger des dortigen Sinfonieorchesters erzählt, dass die Regierung wolle, dass weitergeübt wird, als ob nichts wäre. "Sie haben verordnet, dass alle 'Nucleos' - also die Musikschulen - offen bleiben müssen. Also haben wir uns dazu entschieden, nicht zu den Proben zu gehen. Wenn zu wenige Musiker da sind, können sie keine Probe machen. Das ist unsere Art zu protestieren. Denn wir können nicht einfach wegschauen, wenn täglich Venezolaner von den Sicherheitskräften niedergemetzelt werden. Unsere Hoffnung ist es, das Land damit zu paralysieren. Denn wenn alle mitmachen und der Druck entsprechend hoch wird, muss sich irgendwann etwas ändern."

Von ihrem Lohn können die Musiker von El Sistema nicht leben

Auch in Caracas hat sich schon seit längerem Widerstand in den Orchestern angebahnt. "Ich bin nie zu den obligatorischen Konzerten für die Regierung gegangen, nur als ich noch klein war", erzählt der Musiker aus Caracas, der seit vielen Jahren in einem der Profi-Orchester spielt. Doch dann habe man ihm angedroht, ihn zu entlassen, wenn er weiterhin bei den offiziellen Konzerten für die Regierung fehlen würde. "Und dir wird zur Strafe immer was vom Gehalt abgezogen." Teil eines Lohnes, der durch die hohe Inflation ohnehin kaum für das Nötigste reicht. Es gebe Musiker, die von dem, was sie bei El Sistema verdienen, nicht mehr überleben könnten. "Sie verkaufen in der U-Bahn Kaugummis und Bonbons. Manche machen auch Straßenmusik, wurden dabei aber auch schon ausgeraubt."

Für mich ist das, was in Venezuela passiert, ein Bürgerkrieg.
El Sistema-Musiker aus Caracas

Unruhen in Venezuela - Straßenkämpfe bei Demonstrationen in Caracas | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com Sind die gewalttätigen Proteste in Venezuela schon ein Bürgerkrieg? | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com Der junge Musiker selbst hatte Glück und konnte dank eines Stipendiums einer internationalen Orchesterakademie für eine Tournee nach Deutschland kommen. Jetzt hat er seinen Aufenthalt verlängert, weil an dem Tag, an dem er ursprünglich zurückfliegen wollte, der Flughafen von Caracas gesperrt war. Mit der Sorge um seine Familie und sein Land im Kopf übt er nun für Probespiele. Er hofft, im Ausland unterzukommen. So wie viele seiner ehemaligen Kollegen, die es bereits in Orchester und an Konservatorien außerhalb Venezuelas geschafft haben.

In seine Heimat zurückkehren will er vorerst nicht. "Für mich ist das, was in Venezuela passiert, ein Bürgerkrieg. Aber die Leute wollen das nicht wahrhaben, weil sie wissen, dass das schlimm ist. Ständig fallen Schüsse, werden Molotowbomben geworfen. Keiner will es einen Krieg nennen. Aber das ist es."

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