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Zum 100. Geburtstag des Jazzpianisten George Shearing Der Gentleman mit den feinen Ohren

Ein Mann mit dunkler Brille, vorzugsweise im makellosen Anzug mit Krawatte, der beim Spielen meist leicht den Kopf nach hinten neigte und den ganzen Körper auf Empfang einzustellen schien: So war George Shearing in Konzerten zu erleben. Der blinde Pianist aus England, der 1956 US-amerikanischer Staatsbürger wurde, war ein Musiker mit enorm präzisen Fingern und ganz feinen Ohren – stilbildend als Pianist und Bandleader. 2011 starb Shearing im Alter von 91 Jahren. Am 13. August wäre er 100 Jahre alt geworden.

Der PIanist George Shearing | Bildquelle: picture alliance/Glasshouse Images

Bildquelle: picture alliance/Glasshouse Images

George Shearing wurde 1919 im Londoner Stadtteil Battersea geboren – als jüngstes von neun Kindern einer Arbeiterfamilie. Sein Vater lieferte Kohle aus, seine Mutter putzte in mühseliger Nachtarbeit Eisenbahnwaggons. George Shearing war von Geburt an blind. Er entdeckte sehr schnell die Musik für sich, war fasziniert von Songs, die er im Radio hörte. Er bekam bald Klavierunterricht in einer Schule für Blinde – und schon als Jugendlicher gab er Konzerte. Mit sechzehn verdiente er Geld als Solopianist in einem Pub, war dann auch in Sendungen der BBC zu hören und ging mit achtzehn auf Einladung des großen Produzenten und Jazzkritikers Leonard Feather ins Studio. Bald darauf lockte Amerika. 1947 ging Shearing nach New York, und schon zwei Jahre später landete er einen Hit mit der Aufnahme des Stücks "September in the Rain". Fortan galt er als Sensation an seinem Instrument.

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George Shearing Quintet LIVE 1959 - September in the rain | Bildquelle: Erlendur Svavarsson (via YouTube)

George Shearing Quintet LIVE 1959 - September in the rain

"Old God" und viel literarischer Schweiß

Wie es war, diesen Pianisten 1949, zu erleben, beschrieb der Schriftsteller Jack Kerouac in seinem acht Jahre später erschienenen Kult-Roman "On the road" (deutscher Titel: "Unterwegs"). Da heißt es über Shearings Erscheinung: "Ein distinguiert aussehender Engländer mit steifem, weißem Kragen, leicht fleischig, vom delikaten Lüftchen einer englischen Sommernacht umweht, sobald er die erste süß gekräuselte Nummer spielte, während der Bassist sich ehrfurchtsvoll zu ihm herüber lehnte und den Beat zupfte." Dann schildert Jack Kerouac ausführlich und intensiv ein Konzerterlebnis mit Shearing, beschreibt die hin- und herwiegende Bewegung des in Ekstase geratenen Pianisten, seinen linken Fuß, der bei jedem Beat hochschnellt; den Nacken, der immer heftiger mitwippt; das Gesicht, das Shearing ganz weit zu den Tasten hinuntersenkt; das gekämmte Haar, das sich auflöst, als Shearing es nach hinten streicht, da er zu schwitzen beginnt. Und dann die Akkorde: Akkorde, die laut Kerouacs Beschreibung an diesem Abend wie in Schauern aus dem Klavier strömten, so dass man meinte, es bliebe dem Pianisten gar keine Zeit, sie in eine Ordnung zu bringen. Akkorde, die – so beschreibt es Kerouac - herbei rollten, schäumten, brandeten wie das Meer. Ein fesselndes Spiel, an dessen Ende ein schweißüberströmter Pianist neben dem Klavier stand. Einen "Gott" nannte Kerouac – beziehungsweise eine seiner Romanfiguren – Shearing in dieser Momentaufnahme sogar: "Old God Shearing". Diese literarische Passage machte einen Jazz-Abend unsterblich. Und dem Pianisten George Shearing widerfuhr damit eine der intensivsten Jazzmusik-Beschreibungen, die in der erzählenden Literatur überliefert sind.

Das Vibraphon, die Gitarre und die "locked hands"

Der Pianist George Shearing prägte einen eigenen Band-Sound: den Klang aus fünf Instrumenten – Klavier, Gitarre, Vibraphon, Bass und Schlagzeug -, von denen die Stimmen der ersteren drei ganz eng geführt sind und dabei eine große Klarheit des Klangs mit einer starken Kompaktheit verbinden. "George Shearing Sound" nannte man diesen Band-Klang, nachdem Shearing ihn 1949 in Aufnahmen verewigt hatte. Auch Shearings Klavier-Stil war neu: Er spielte oft eine melodische Linie oktavversetzt sowohl mit der rechten als auch mit der linken Hand und umgab diese doppelte Melodielinie zugleich mit Harmonien. Locked Hands Style nennt man das auch, und beim Klangergebnis spricht man von Blockakkorden. Durch die feine Spieltechnik Shearings, eines Musikers mit besonders viel Fingerspitzengefühl, klangen auch viele nebeneinandergesetzte und schnell bewegte Töne immer ungemein transparent: pianistisch ein Hochgenuss, auch für Hörer, die Klangkriterien aus der klassischen Musik an den Jazz anlegten.

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Mel Torme & George Shearing  - Full Concert - 08/18/89 - Newport Jazz Festival (OFFICIAL) | Bildquelle: Jazz on MV (via YouTube)

Mel Torme & George Shearing - Full Concert - 08/18/89 - Newport Jazz Festival (OFFICIAL)

Scarlatti und Satie treffen auf Jazz-Evergreens

Shearings Musik war stets ein Muster an Disziplin und gleichzeitiger Leichtigkeit, höchste Klangbeherrschung in spielerischer Anmut. In späteren Aufnahmen zitierte er gern Musik aus der Klassikwelt, lieh sich tänzelnde Noten nach Art der Klaviermusik von Domenico Scarlatti für die Einleitung des Jazz-Evergreens "My Favorite Things" oder das Thema und die Akkorde von Erik Saties "Gymnopédie Nr. 1" für seine Interpretation des Standards "It Never Entered my Mind". Gerade Shearings Solo-Aufnahmen sind Paradebeispiele für eine selbstverständliche und nirgends kitschige Verbindung der Klassik- und der Jazzwelt, stilistisch ebenso geschmackssicher wie die Aufnahmen des jahrzehntelang gefeierten amerikanischen Modern Jazz Quartet. Dennoch fühlte sich der Romanautor Jack Kerouac bereits 1957 bemüßigt, am Ende seiner Passage über Shearing zu schreiben, dieser sei nach 1949 "cool and commercial" geworden – eine Einordnung, die dem Beatnik Kerouac allzu ideologiebeflissen aus der Feder troff.

Der Hit: "Lullaby of Birdland"

Mit seinem Spiel – aber auch mit einem Stück, das er schrieb, hat sich Shearing in den Gedächtnissen vieler festgesetzt. Das betreffende Stück war ein Jazz-Hit, über den er einmal sagte: "Ich habe 300 Songs geschrieben, 299 liefen so lala, von ziemlicher Belanglosigkeit bis zum völligen Vergessen. Hier ist der andere." Dieser andere war "Lullaby of Birdland", das bis heute zu den berühmtesten Melodien des Jazz zählt. Große Jazzstimmen wie Ella Fitzgerald und Sarah Vaughan, aber auch die Soul-Sängerin Amy Winehouse haben das Stück interpretiert. Hinzu kommen unzählige Instrumental-Aufnahmen von Musikern wie Lionel Hampton, Stan Getz und Lester Young. Sogar Aufnahmen des Bundespolizeiorchesters München oder auch des Chorverbandes Bayerisch-Schwaben gibt es von dem Stück.

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George Shearing - Lullaby Of Birdland | Bildquelle: LOFTmusic (via YouTube)

George Shearing - Lullaby Of Birdland

Gib mir ein Viertelstündchen, und ich schreib dir was

 "Lullaby of Birdland" wurde eine doppelte Kennmelodie. Zunächst für einen Jazzclub – und später für den Komponisten, George Shearing. Der schrieb es 1952 als Auftragsstück für jenen Club in New York namens "Birdland", der nach dem Spitznamen "Bird" des Saxophonisten Charlie Parker benannt ist. 1949 war dieser berühmte Club am Broadway zwischen der 52. und der 53. Straße gegründet worden. Von 1951 an wurden von dort Konzerte im Radio übertragen – deshalb bat der Club-Mitbegründer Morris Levy den Pianisten George Shearing, kurz nachdem dieser dort aufgetreten war, um eine Kennmelodie. Schilderungen zufolge soll Shearing das Stück wenige Tage später innerhalb nicht einmal einer Viertelstunde komponiert haben. Der schnelle Wurf wurde ein besonders langlebiges Stück. Der Songwriter George David Weiss verfasste zu Shearings Melodie einen Text, allerdings unter dem Pseudonym B. Y. Forster – dieses Pseudonym ist auf den jeweiligen Schallplatten vermerkt. Und das mitreißende Wiegenlied, denn dafür steht "Lullaby", macht seitdem die Runde bei Gesangsstimmen und bei Instrumentalisten auf der Welt.

Ein Bescheidener, der in einer Hinsicht keine Schule machte

Bereits 2004 hatte sich George Shearing nach einem schweren Sturz, dem ein langer Klinik-Aufenthalt folgte, vom Konzertleben zurückgezogen. 2007 adelte ihn die englische Queen. "Ich weiß auch nicht, wie ich zu dieser Ehre komme", sagte Sir George Shearing darauf: "Ich habe doch nur das getan, was ich am liebsten tue". Ob "Sir" oder "Old God" - dieser brillante Musiker, dessen Karriere sechs Jahrzehnte umspannte, blieb offenbar ein Bescheidener. Oder aber, trotz eines guten halben Jahrhunderts amerikanischer Staatsbürgerschaft, im Herzen ein Brite – mit einem Sinn für Understatement, der etwa heutigen führenden Politikern nicht nur in den USA, sondern auch in England entschieden abhandengekommen ist.

George Shearing auf BR-KLASSIK

Jazztime – "News & Roots"
13. August 2019, 23:05 Uhr
Zum 100. Geburtstag von George Shearing

Moderation und Auswahl: Roland Spiegel

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