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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 5 Hören wir Gutes und reden darüber!

In Corona-Zeiten haben Jazz-Alben einen neuen Stellenwert erhalten: Nicht in Konzerten erreichen Musikerinnen und Musiker ihr Publikum, sondern mit Aufnahmen. Wir stellen vier besondere CDs vor.

Cover Baptiste Bailly: Suds | Bildquelle: Neuklang

Bildquelle: Neuklang

Jazztime - 10.08.21

Hören wir Gutes Vol. 5 - gekürzte Version

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 5" hier zum Nachhören – mit aus rechtlichen Gründen gekürzten Musikstücken.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel zum fünften Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende vier Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Baptiste Bailly: "Suds", Neuklang NCD4346 (LC 13834)

Baptiste Bailly ist ein 1992 in Frankreich geborener Pianist, der in Spanien lebt. Dass er in beiden Ländern zuhause ist, spürt man schnell an seiner Musik. Viele seine Stücke sind impressionistisch beeinflusste Klangbilder, aus denen immer wieder iberisch angehauchte Tonfolgen herausstechen. "Suds" ist eine Solo-CD, aber auf ihr ist nicht nur ein Konzertflügel zu hören - den Bailly manchmal auch sparsam und geschmackvoll mit den Fingern auf den Saiten spielt -, auch elektronische Zutaten und Verfremdungen setzt der Pianist in feiner Dosierung ein. Man kann sich hineinfallen lassen in diese Stimmungen - wie auf imaginären Reisen zwischen Frankreich und Spanien - und ganz unterschiedliche Bilder genießen. Die Stücke heißen "Soie" (Seide), "Neige" (Schnee) , "L’eau et le vent" (das Wasser und der Wind), "Les yeux der Sara" (Saras Augen) und laden zum Imaginieren genauso ein wie zum Hören. Dieser Pianist hat auch mit der Singer-Songwriterin Roxane Arnal und der Schauspielerin und Sängerin Elma Sambeat zusammengearbeitet und gehört zu einer jungen Jazzgeneration mit einem offenen Horizont, die jenseits geläufiger Jazzgrenzen nach Neuem suchen.

SVETLANA MARINCHENKO TRIO: "LETTERS TO MY LITTLE GIRL", LOSEN RECORDS LOS 260–2 

Cover SVETLANA MARINCHENKO TRIO: LETTERS TO MY LITTLE GIRL | Bildquelle: LOSEN RECORDS Bildquelle: LOSEN RECORDS  Eine Geschichte, eine leuchtende Erinnerung, ein unvergängliches Gefühl - all dem Klang, Melodie und Rhythmus zu verleihen, darum geht es Svetlana Marinchenko in ihren Kompositionen. Neun sind es auf dem zweiten Album der 1989 in der Nähe von Moskau geborenen Pianistin, die seit 2015 in München lebt. "Letters to my little girl" heißt es. Ihr akustisches Klaviertrio wird darauf bei fast allen Stücken mit elektronischen Effekten klanglich erweitert und bei etwa der Hälfte wird auch gesungen von Enji Erkhembayar und Fiona Grund. Der Grundton von Svetlana Marinchenkos musikalischen Erzählungen ist poetisch.  Berührend schön sind die Melodien, und zugleich verströmt die Musik in ihren variantenreichen Entwicklungsbögen eine unwahrscheinliche, zutiefst swingende Energie, aus der man immer noch die spirituelle Wucht des musikalischen Erweckungserlebnisses heraus zu spüren vermeint, zu dem John Coltranes hymnisches Jazz-Opus "A love supreme" für Svetlana Marinchenko wurde, als sie es mit siebzehn hörte. Danach erst entschied sie sich, Klavier zu lernen um Jazz zu spielen und zu komponieren. Umso beeindruckender ihre musikalische Reife. Griffig und komplex zugleich ist ihre Auslegung des Modern Jazz Idioms, stilistisch mitreißend und auch wegen des inspirierten Zusammenspiels mit Bassist Peter Cudek und Schlagzeuger Ofri Nehemyar ein ausgemachter Hörgenuss.

Kalnein, López, Schwarz: "A Night in Vienna", NATANGO MUSIC NAT47623 (LC 27958)

Cover Kalnein, Lopez, Schwarz: A Night in Vienna | Bildquelle: NATANGO MUSIC Bildquelle: NATANGO MUSIC Da braut sich was zusammen: Ein satter Tenorsaxophonsound füllt den Raum, im Hintergrund grollt ein Kontrabass und Schlagzeugakzente durchzucken die Musik. Saxophonist Heinrich von Kalnein, Kontrabassistin Gina Schwarz und Schlagzeuger Ramón López live aufgezeichnet bei einem Streamingkonzert im Januar 2021 im Wiener Jazzclub "Porgy and Bess" - ein großartiger Musikmoment voll Energie, Leidenschaft und voll von improvisatorischem Mut zum Risiko.
"A Night in Vienna" heißt das neue Album des Trios und alle drei gestalten die Musik gleichermaßen. Heinrich von Kalnein verwendet alle vier üblichen Instrumente der Saxophonfamilie: vom hohen Sopransaxophon, über das bei ihm äußerst expressiv-gespielte Altsax und Kalneins eigentlichem Hauptinstrument, dem sinnlich-kraftvollen Tenorsaxophon, bis hin zum samtig-schmirgelnden Baritonsaxophon. Schlagzeuger Ramón López liefert kernig Beats und flächige Klangwolken. Bassistin Gina Schwarz hält mit ihren Tönen das ganze Gefüge zusammen. Kalnein, López, Schwarz beweisen mit "A night in vienna", dass in der Corona-Zeit in steriler Streamingatmosphäre auch wahre Glücksmomente auf der Bühne möglich waren - diese Nacht in Wien hat es in sich!

Simon Popp: "Devi", Squama Records SQM010; Z8123

Cover Simon Popp: Devi | Bildquelle: Squama Records Bildquelle: Squama Records Welch ein Groove, welch ein Drive, welch ein orchestraler Reichtum! Die Stücke auf diesem Album (das es nur auf Vinyl und digital gibt, aber nicht als CD) packen sofort mit einem faszinierenden Klang-Panorama und Rhythmen, die sanft, aber beharrlich in den Körper fahren. Ja, es ist ein Orchester! Aber eines aus einem einzigen Musiker. Der in München lebende Schlagzeuger Simon Popp (geboren 1990 im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben), auch bekannt als Mitglied des hervorragenden Quintetts Fazer, hat alle Sounds auf seinem Album "Devi" selbst aufgenommen. Live sind die Stücke mit drei Schlagzeugern beziehungsweise Perkussionisten realisierbar. Klänge vielfältiger Formen von Fellen, Metall und Holz entfalten hier eine ganz eigene Schönheit und Farbigkeit. Ja, diese Musik hat "Melodien", hat "Harmonien" und ist ganz unmittelbar ergreifend! „Devi“ ist die Bezeichnung für "Göttin" im Hinduismus - und ganz egal, ob man das vorher weiß oder nicht: In dieser Musik teilt sich auf Anhieb etwas stark Spirituelles und spürbar Persönliches mit. Das Label selbst beschreibt sie viel nüchterner: "eine perkussive Umsetzung von Ambient- und Third-Stream-Minimalismus", heißt es da. Diese Musik ist aufregend schön erdacht und gespielt - und sie präsentiert sich in enormer aufnahmetechnischer Brillanz. Egal, wie man sie nennt: Sie ist ein Stoff, den man sich reinziehen sollte.

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