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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 10 Hören wir Gutes und reden darüber!

In den letzten beiden Jahren haben Jazz-Alben einen neuen Stellenwert erhalten: Nicht in Konzerten erreichen Musikerinnen und Musiker ihr Publikum, sondern mit Aufnahmen. Wir stellen vier besondere CDs vor.

Cover - Olga Reznichenko Trio: Somnamblue | Bildquelle: Traumton Records

Bildquelle: Traumton Records

Jazztime - 14.06.22

Hören wir Gutes Vol. 10 - gekürzte Version

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 10" hier zum Nachhören – mit aus rechtlichen Gründen gekürzten Musikstücken.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel zum zehnten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende vier Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Olga Reznichenko Trio: "Somnambule", Traumton Records 4680 (LC 05597)

Die Konkurrenz bei Klaviertrios ist groß. Es gibt viele, darunter eine ganze Anzahl außerordentlich guter und eine Menge großer Namen. Mit ihrem Debütalbum als Bandleaderin kann sich Olga Reznichenko (Jahrgang 1989) in diesem Umfeld nicht nur behaupten, sondern auch schon herausragen, auch als Komponistin. In acht episodenhaften Stücken - sie sind inspiriert von Träumen - fächert die Leipzigerin zusammen mit Bassist Lorenz Heigenhuber und Schlagzeuger Maximilian Stadtfeld im maximal organischen Miteinander eine enorme Ausdrucksvielfalt auf, die zusammengenommen eine stimmige Einheit ergibt. Losgelöst und doch verbunden, zart und doch bestimmt, brachial und doch nuanciert, hochgradig durchdacht und doch intuitiv. Jeder Song entwickelt einen ganz eigenen Charakter im Spiel mit hymnischen Atmosphären und harmoniesattem Power-Play, Popsong-Qualität und russischer Spätromantik, zartestem Töne-Tupfen und unerbittlichen, übereinander gelegten Minimal Music Patterns. Es ist avancierte, harmonisch und rhythmisch anspruchsvolle Musik. Doch auch, wenn sie das konzentrierte Zuhören quasi einfordert, kann man zu und mit ihr auch einfach seiner Gedankenwelt freien Lauf lassen. So wie es Olga Reznichenko selbst auch tut, wenn sie von sich sagt: "Ich bin nicht so ein analytischer Typ, mir gefällt es beim Spielen das Denken einfach loszulassen."

John Scofield: "John Scofield", ECM Records 2727 (LC 02516)

Cover - John Scofield solo: John Scofield | Bildquelle: ECM Records John Scofield: "John Scofield" | Bildquelle: ECM Records Premiere mit siebzig! Zum ersten Mal hat der amerikanische Gitarrist John Scofield jetzt ein Solo-Album gemacht. Nach 45 Jahren Weltkarriere! Eigentlich ist er ein Teamplayer, bekannt für mitreißend groovende Gitarrenparts in diversen eigenen Bands und nicht zuletzt in der Gruppe der Jazz-Galionsfigur Miles Davis. Doch nun das! An langen Corona-Tagen richtete er es sich zu Hause mit der Gitarre sowie einem Loop-Gerät ein: einem Apparat, mit dem man live Begleitungen einspielen und dann sofort abrufen kann. So entstanden Aufnahmen, in denen John Scofield seine eigene Band war. Auf sehr einfache Art geht er mit dem technischen Accessoire um: Er setzt etwa ganz schlicht geschlagene Akkordfolgen in den Hintergrund und spielt darüber Melodien und Soli. Das tut dieser Meister kraftvoller E-Gitarrenklänge so fesselnd charmant, dass diese Aufnahmen schnell einen ganz eigenen Reiz offenbaren. Wenn Scofield Melodien spielt und daraus dann Improvisationen entwickelt, scheint das Instrument zu sprechen. Das tut es hier genauso wie in Band-Einspielungen. Stücke wie der Folk-Song "Danny Boy", die Jazzklassiker "It Could Happen To You" und "My Old Flame", der Rock’n‘Roll-Song "Not Fade Away" oder auch die Country-Nummer "You Win Again" scheinen vor Glück zu lächeln in diesen lustvoll gekneteten Instrumental-Versionen. Markante Eigenkompositionen wie "Mrs. Scofield’s Waltz" und "Since You Asked" runden das vielfältig schillernde Repertoire des Albums ab. Ein augenzwinkerndes Selbstporträt in verdoppeltem Saitensound. Lustmusik für Lusthörer:innen.

Günter Baby Sommer & The Lucaciu 3: "Karawane", Intakt Records CD 384 (LC 11265)

Cover - Günter Baby Sommer & The Lucaciu 3: Karawane | Bildquelle: Intakt Records Günter Baby Sommer & The Lucaciu 3: Karawane | Bildquelle: Intakt Records Familientreffen haben immer einen eigenen Reiz: tiefe Vertrautheit verbunden mit einem ganz besonderen Konfliktpotential. Innerfamiliäre Spannungen haben eine sehr spezielle Form von Elektrizität. So ein Knistern spürt man auch auf dem Album "Karawane" der drei Lucaciu-Brüder aus Plauen - Altsaxophonist Antonio, Pianist Simon und Kontrabassist Robert - zusammen mit der Dresdner Schlagzeug-Legende Günter Baby Sommer. Dieser Trommel-Meister, zwei Generationen älter als die drei hochmusikalischen Lucacius, zeigt auf dem Album seine ganze Bandbreite an Klangkunst: kompromisslos energetisch, mit der "Baby-eigenen" Power, aber auch mit seinem untrüglichen Geschmackssinn für lyrische Geräusche. Die drei Lucacius sind dabei absolut gleichberechtigte Anspielpartner untereinander und mit Sommer im Dialog. Heiß britzelnde Luft, dunkle, sich auftürmende Wolken, cooler Windhauch, all das weht durch die Kompositionen auf dem Album "Karawane". Auch das gleichnamige Dada-Gedicht von Hugo Ball wird zum Klingen gebracht. Und natürlich darf auch ein "Hymnus" von Günter Baby Sommer nicht fehlen, an dessen Kantigkeit man sich einfach nicht satt-hören kann. "Karawane" ist ein buntes und vielfältiges musikalisches Familientreffen, bei dem alle Beteiligten auch von sich selbst erzählen dürfen. Etwa ist Antonio Lucacius Prägung als Popsaxophonist durch aus spürbar, Roberts weiter Horizont als Improvisator mit Nähe zur Neuen Klassischen Musik, Simons Feinfühligkeit, mit zarten Einflüssen seines Professors Michael Wollny. Und Günter Baby Sommer, der ist sowieso immer unumstößlich er selbst. So ein Familientreffen macht richtig Spaß! 

Antonia Hausmann: "Teleidoscope", nWog 044 (LC 77779)

Cover Antonia Hausmann: Teleidoscope | Bildquelle: nWog Records Antonia Hausmann: "Teleidoscope" | Bildquelle: nWog Records Die Posaunistin Antonia Hausmann (Jahrgang 1990) hat sich schon in ganz unterschiedlichen Musikwelten einen Namen gemacht. Da spielen Hip Hop und Indie Pop eine Rolle, wenn sie mit Clueso oder der Band "Karl die Große" spielt, elektronische Musik, zwischendurch auch Big Band und Klassik. Aber im Zentrum steht der Jazz. Im Trio.Diktion und als Teil des Volker Heuken Sextetts überzeugt sie mit ihrem wunderbar runden, beweglichen Ton und ihren spannenden Soli. Nun also endlich: ihr eigenes Debüt als Bandleaderin. Mit Bassklarinettist Damian Dalla Torre, Pianist Johannes Bigge, Schlagzeuger Philipp Scholz und zwei Gästen: dem Posaunisten Nils Wogram und dem Bassisten Carl Wittig, präsentiert Antonia Hausmann acht eigene Kompositionen, die alle eine stark gesangliche Note haben. Die Posaune sei mit ihrem Klang besonders nah an der Stimme, sagt man ja. Und mit ihrer Stimme nimmt Antonia Hausmann mich sofort mit in den Sog ihrer Songs, von denen der größte Teil seine Wirkung in ruhigem Tonfall entfaltet. Da ist Luft für Klangentfaltung, für den Farbenreichtum der Obertöne, da entwickeln sich Stimmungen, die von sanfter Melancholie und stiller Heiterkeit getragen sind, da faszinieren die subtilen Facetten im Zusammenspiel der Band. Und die unerwarteten Räume, die sich auftun, wenn die Songs sich der Improvisation öffnen, sind wie der Blick auf die Welt durch ein Teleidoskop: Das an sich Bekannte bekommt eine neue, unerwartete Dimension. Genau das glückt Antonia Hausmann mit ihrer Musik.

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