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Top Ten - Die besten Jazz-Alben 2022 Unsere Favoriten des Jahres

Jazz aus den USA, Deutschland, der Ukraine, Schweden und anderswo - die Top Ten der Jazzalben 2022 sind wieder eine internationale Angelegenheit, ausgesucht von unserer Jazzredaktion.

Terri Lyne Carrington: "New Standards Vol. 1" (Candid Records)

Cover - Terri Lyne Carrington: New Standards Vol. 1 | Bildquelle: Candid Records Bildquelle: Candid Records Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington ist ein Weltstar des Jazz, Legenden wie Pianist Herbie Hancock und Saxophonist Wayne Shorter wollten sie unbedingt in ihren Bands haben. Sie ist aber auch eine Aktivistin für die Rechte der Afroamerikaner*innen und der Frauen. Seit einigen Jahren ist sie Leiterin des "Institue of Jazz and Gender Justice" am "Berklee College of Music" in Boston. Ihr 2022 erschienenes Album "New Standards Vol. 1" ist also durchaus als Statement für Gleichberechtigung im Jazz zu sehen. Das alleine macht es aber noch nicht zu einem Album des Jahres. Carrington und ihren Mitmusikerinnen und -musikern, ziemlich gleichberechtigt Frauen und Männer, ohne aber eine Quote einhalten zu müssen, gelingt es, richtig mitreißende Musik zu machen! Packend, virtuos und intensiv interpretiert die Allstarband die sehr unterschiedlichen Kompositionen. Die sinnliche Seite des Jazz wird nie vergessen, manchmal ist die Musik zärtlich anrührend, manchmal wie ein klingendes Ausrufezeichen. Jazz mit Botschaft, ohne dabei die Musik zu vergessen, sehr gelungen!

JACOB COLLIER: "PIANO BALLADS PT.1 & PT2" (DECCA) 

Cover - Jacob Collier: Piano Ballads | Bildquelle: Decca Records Bildquelle: Decca Records Jacob Collier ist ein genialer Musiker. Schon als Teenager hat er die Welt mit seiner sprudelnden, musikalischen Inspiration bereichert. Er ist Sänger und ein wahrer Multi-Instrumentalist, der häufig seine Kompositionen komplett alleine eingespielt hat. Seit Dezember 2018 hat er vier Alben mit dem Titel "DJESSE", Volume 1 bis 4, herausgebracht. Darauf arbeitet er mit Musiker*innen aus aller Welt zusammen. Im Sommer 2022 stellte er bei einer Tournee einen Teil der etwa vierzig eigenen Stücke vor, die er dafür geschrieben hat. Bei jedem Konzert sang und spielte er aber auch eine ganz eigene Interpretation eines popmusikalischen Welthits, den er jeweils zum ersten Mal öffentlich aufführte. Jeden Abend schickte er - zunächst alleine singend am Flügel, und dann zusammen mit dem Publikum, das er spielerisch anleitet, avancierte Harmoniechöre zu singen - einen anderen Song in bisher ungeahnte harmonische Umlaufbahnen. Darunter "Dancing Queen" im Duett mit Alita Moses, "How deep is your love" und "Can´t take my eyes off you". Herrlich, berührend, zum Heulen schön sind diese Konzermitschnitte.

DANIEL ERDMANN & CHRISTOPHE MARGUET: "PRONTO!" (MESS0002)

Cover - DANIEL ERDMANN & CHRISTOPHE MARGUET: "PRONTO!" | Bildquelle: Melodie En Sous-Sol Bildquelle: Melodie En Sous-Sol Gleich die ersten Töne: wie ein Krimi. Spannungsgeladen, und dabei ganz geschmeidig. Atmosphäre pur, subtiler Nervenkitzel mit pochendem Puls, der natürlich swingt. Die ganze Szene in schwarz/weiß mit Trenchcoat. Vom regennassen Trottoir dann spätnachts in eine von interessanten Charakterköpfen bevölkerte Bar abbiegen, in der der Genuss geistiger Getränke zu einem erhöhten Umsatz philosophischer Themen führt. Das wäre dann im wahrsten Sinne des Wortes eine "Denkbar". Dort, aber auf jeden Fall auch in der angrenzenden "Fühlbar" wäre dieses Quartett die ideale Hausband. Sie spielt Musik, die meine Vorstellungskraft Note für Note beflügelt und eine große existenzielle Energie verströmt. Mit ihren vielen, raffiniert ineinander verschlungenen Handlungssträngen sind die Kompositionen von Saxophonist Daniel Erdmann und Schlagzeuger Christophe Marguet im Zusammenspiel mit Pianist Bruno Angelini und Bassistin Hélène Lebarrière außergewöhnliche Glanzstücke packender, musikalischer Erzählkunst.  

GANNA: "Home" (Berthold Records)

Cover - Ganna: Home | Bildquelle: Berthold Records Bildquelle: Berthold Records Ein Album mit wunderschöner Musik zu einem hochaktuellen Thema: Die aus der Ukraine stammende (und seit 2002 in Deutschland lebende) Sängerin Ganna Gryniva interpretiert mit ihrer international besetzten Band Folksongs aus ihrer Heimat in zupackend zeitgenössischem Jazzsound. Hinreißende Melodien, spannende Arrangements der Bandleaderin, berückend schöne und zugleich raffiniert angeraute Momente im Zusammenwirken etwa des französischen Saxophonisten Musina Ebobissé und des schwedischen Pianisten Povel Widestrand mit der in vielen Farben und Ausdrucksnuancen changierenden Stimme Ganna Grynivas. Schon lange vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Gryniva die Songs zusammengetragen. Das Booklet bietet gut formulierte Hintergrund-Infos zu den Stücken - wer das Album 'Home' hört, kann lauschen, schwelgen und den Horizont erweitern.

Julia Hülsmann Quartett: "The next door" (ECM)

Cover - Julia Hülsmann Quartett: The Next Door | Bildquelle: ECM Bildquelle: ECM Zeit und Klang sind die besonders reizvollen Elemente des Albums "The next door" vom Julia Hülsmann Quartett. Die Berliner Pianistin und ihre Band mit Bassist Marc Muellbauer, Schlagzeuger Heinrich Köbberling und Tenorsaxophonist Uli Kemopendorff spielen mit der Zeit und dem Timing. Oft entwickeln sich Dinge langsam, Klänge dürfen sachte zusammenfinden, Melodielinien dürfen sich sanft aufdröseln, Harmonien dürfen sich stetig verdichten. Dann wieder geschieht vieles gleichzeitig: die Musik nimmt schnelle Wendungen, harmonische Färbungen wechseln plötzlich, die Stimmung kippt. Es wirkt, als würden alle unvermittelt beschleunigen und dann wieder in Zeitlupe agieren. Ähnlich ist es mit dem Sound der einzelnen Beteiligten: Uli Kempendorffs Saxophon kann poetisch samtig säuseln, aber auch sperrige Ton-Kaskaden produzieren. Julia Hülsmann kann mit ihren Akkorden einen weichen Teppich legen, aber auch harmonisch dagegen klingen. Eine Musik der Vielfalt und Lebendigkeit, in der es immer wieder neue Schattierungen und Ebenen zu entdecken gibt.

Eva Klesse Quartett: "Songs against loneliness" (ENJA-yellowbird)

Cover - Eva Klesse Quartett: Songs against loneliness | Bildquelle: ENJA-Yellowbird Bildquelle: ENJA-Yellowbird Sie haben besonderen Sinn für Melodien und ergreifende Stimmungen: das Quartett der deutschen Schlagzeugerin Eva Klesse und ihr prominenter Gast, der österreichische Gitarrist Wolfgang Muthspiel. Dreizehn Stücke firmieren hier als "Songs against Loneliness" - und schaffen es, Einsamkeit deutlich zu verschönern. Mit viel Fingerspitzengefühl verzahnen diese Aufnahmen etwa die Linien etwa des immens feinen Saxophonisten Evgeny Ring und des virtuosen Saitenpoeten Wolfgang Muthspiel, und voller Nuancen ist das hochsensible und atmosphärisch dichte Zusammenspiel von Klavier, Bass und Schlagzeug. Sprachlich schillernde Stücktitel wie "Minor is what I feel" und "Anthem (for the Anthemless)" steigern das Vergnügen mit diesem Album noch mehr.

Ohta & Lindermayr: "MMMMH" (Squama Recordings)

Cover Masako Otha & Matthias Lindermayr: MMMMH | Bildquelle: Squama Bildquelle: Squama Feine Kost für die Ohren! Sie, eine zierliche Klassik-Pianistin aus Japan, er, ein langer Jazztrompeter aus München. Erstmal ziemlich gegensätzlich, musikalisch köcheln sie aber gemeinsam ein hinreißendes, tief berührendes und Ohren-schmeichelndes Süppchen. "MMMMH" heißt das erste Album vom Duo der Pianistin Masako Ohta und des Trompeter Matthias Lindermayr. Kennengelernt haben sie sich 2019, als sie beide den Musikförderpreis der Stadt München verliehen bekamen. Bei der Preisverleihung plauderten sie und bald darauf kommunizierten beide auch musikalisch. Von einem offenen, intensiven und respektvollen Miteinander ist auch ihre Musik geprägt. Teilweise ist sie komplett frei improvisiert, teilweise spielen sie himmlisch zarte oder packend griffige Melodien. Die Musik von Ohta und Lindermayr auf "MMMMH" ist der pure Genuss, ohne aber harmlos oder gar kitschig zu sein. Äußerst gelungen, gerne mehr davon!

Enrico Rava / Fred Hersch: "The Song Is You" (ECM)

CD Cover Enrico Rava - Fred Hersch | Bildquelle: ECM Bildquelle: ECM Zwei ganz große Figuren der aktuellen internationalen Jazz-Szene. Und das seit Jahrzehnten: der italienische Trompeter Enrico Rava, geboren 1939, und der amerikanische Pianist Fred Hersch, geboren 1955. Beide für sich haben etliche jüngere Musiker stark beeinflusst und über die Jahrzehnte Aufnahmen gemacht, die zu den besonders empfehlenswerten der modernen Jazzgeschichte gehören. Jetzt haben sie endlich zusammengefunden zu dem Duo-Album "The Song Is You". Es berührt Minute für Minute mehr. Die Aufnahmen sind ruhige, innige und sehr tiefgründige Zwiegespräche von Klavier und Flügelhorn. Evergreens wie das von Jerome Kern stammende Titelstück, Thelonious Monks "Misterioso" und Jobims "Retrato em branco e preto" bringt dieses einzigartige Duo in gelassener, völlig klischeefreier Schönheit zum leisen, innigen Leuchten. Klänge mit Aura. Musik für den ganz langen inneren Nachhall.

OLGA REZNICHENKO TRIO: "SOMNAMBULE" (TRAUMTON)

Cover - Olga Reznichenko Trio: Somnamblue | Bildquelle: Traumton Records Bildquelle: Traumton Records Die Konkurrenz bei Klaviertrios ist groß. Doch mit ihrem Debütalbum als Bandleaderin kann sich Olga Reznichenko (Jahrgang 1989) in diesem Umfeld nicht nur behaupten, sondern auch schon herausragen, auch als Komponistin. In acht episodenhaften Stücken - sie sind inspiriert von Träumen - fächert die Leipzigerin zusammen mit Bassist Lorenz Heigenhuber und Schlagzeuger Maximilian Stadtfeld im maximal organischen Miteinander eine enorme Ausdrucksvielfalt auf. Losgelöst und doch verbunden, zart und doch bestimmt, furios und doch nuanciert, hochgradig durchdacht und absolut intuitiv. Ein mitreißendes Wechselspiel der Gegensätze mit hymnischen Atmosphären und harmoniesattem Power-Play, Popsong-Charakteristika und russischer Spätromantik, impressionistischem Töne-Tupfen und unerbittlichen, übereinander gelegten Minimal Music Patterns. Surreale Traumwelten in rauschhafte Musik gegossen von einer, die über sich sagt:  "Ich bin nicht so ein analytischer Typ, mir gefällt es beim Spielen das Denken einfach loszulassen."

Esbjörn Svensson: "Home.S" (ACT)

Cover Esbjörn Svensson: "Home.s" | Bildquelle: ACT Bildquelle: ACT Späte Fundstücke: Der schwedische Pianist Esbjörn Svensson starb 2008 nach einem Tauch-Unfall. Er war nur 44 Jahre alt. Sein Trio e.s.t. hatte ein Jahrzehnt lang für fesselnd frischen Wind im europäischen Jazz gesorgt. Viele Jahre rührte Svenssons Witwe Eva die Festplatten, die zuhause in einem Schrank lagen, nicht an. Dann aber entdeckte sie auf einer davon Solo-Aufnahmen, die sie überraschten: 37 Minuten Musik in vorzüglicher technischer Qualität, solo am Klavier eingespielt und so angeordnet, dass sie ein durchdachtes Ganzes bilden. Das Label ACT (das auch die Alben von e.s.t. veröffentlicht hatte) brachte diese Musik jetzt heraus. Sie wirkt wie ein intimer Gruß an Familie, Fans und Vorbilder - mit klingendem Augenzwinkern in Richtung von Inspiratoren wie Bach, Beethoven und Keith Jarrett. Und berührt in ihrer oft zärtlichen Schönheit gerade in Zeiten wie diesen.

 

 

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