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Traditionelle Klangwelten aus Madagaskar Bambus, Kürbis und Muschel

Eine Klangvielfalt, die erstaunt: Auf Madagaskar kann man einen Musikreichtum entdecken, der das Leben der Menschen alltäglich begleitet und dessen Ursprünge tausende von Kilometern entfernt liegen.

Valiha-Händler (Bambusröhrenzither) | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Es ist mehr als verwunderlich: Madagaskar ist eine der ältesten Inseln der Erde und doch wurde sie so spät erst von den Menschen entdeckt. Pflanzen und Tiere konnten sich über Jahrmillionen ungestört entwickeln und machten daraus ein einzigartiges Naturparadies. Madagaskar ist eine Welt für sich – die meisten der vorkommenden Arten sind nur auf diesem lange Zeit unentdeckten Eiland heimisch.

Was aber genauso erstaunt: Auch musikalisch ist Madagaskar eine Welt für sich. Die ersten Siedlerinnen und Siedler kamen aus Indonesien und Malaysia, aus Arabien, Indien, dann später aus Afrika und Europa und mit ihnen strömten verschiedenste Musikkulturen auf die Insel. So entstand in dieser Abgeschiedenheit ein äußerst vielgestaltiger Musikkosmos, passend zur überbordenden Biodiversität.

Die Valiha – das prominenteste Instrument Madagaskars

Valiha - Röhrenzither aus Madagaskar | Bildquelle: picture-alliance/dpa Prominentestes Instrument Madagaskars: Valiha | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Valiha ist das prominenteste Instrument der Insel. Sie ist eine Röhrenzither aus Bambus mit dem Durchmesser eines Abflussrohres und mit über 20 Saiten, die längs um ihren Umfang gespannt sind. Mit Hilfe von kleinen beweglichen Kalebassenstückchen werden die Saiten angehoben und gestimmt. Die Saiten wurden ursprünglich aus Fasern der Bambusrinde gefertigt. Da das sehr arbeitsaufwendig ist, hat sich eine andere Herstellung durchgesetzt: nämlich aus Bremszügen von Fahrrädern, deren Stahldrähte ausgedreht werden. Vermutlich kam die Bambuszither Valiha mit Einwanderern aus dem südostasiatischen Raum, aus dem fernen Malaysia und Indonesien nach Madagaskar.

Verschmitzt, licht und luftig – die Sodina

Ein anderes Instrument, das einem in Madagaskar immer wieder begegnet, passt fast in die Hosentasche: die Sodina. Ursprünglich wurde sie aus Bambus hergestellt, heute wird sie teilweise auch aus Plastik oder leichtem Metall gefertigt. Sie hat meist sechs Löcher, die Röhre ist an beiden Enden offen und  - das ist die Besonderheit – sie hat kein Mundstück. Die Töne entstehen, indem man von der Seite über den verdünnten Rand des oberen Endes bläst.

Rakoto Frah (Sodia) - Madagaskar | Bildquelle: © Wikipedia Meister der Sodina: Rakoto Frah | Bildquelle: © Wikipedia Als der unbestrittene Meister der Sodina, der mit seinem ausgefuchsten Flötenspiel Madagaskar weltweit repräsentiert hat, wird bis heute Rakoto Frah verehrt. Er galt als charmanter Herr. Schelmische Augen blitzten unter der Hutkrempe hervor und trotz seines Weltruhms lebte er in einem winzigen Haus in Isotry, einer der ärmsten Regionen des Landes. Seine Sodinas baute er eigenhändig aus Aluminium-Zeltstangen oder Skistöcken, die er von seinen Reisen mitbrachte. Kein Problem für ihn als ehemaligen Metallfabrikarbeiter, der sogar dem französischen Präsidenten Charles de Gaulles aufgespielt hatte. Und den der amerikanische Jazzsaxophonist Ornette Colemen bewunderte.

Rakoto Frah ist einer der Musiker mit der besten Phrasierung auf der Welt
Ornette Colemen

Musik als gesellige Kunst, die Menschen verbindet

Viele madagassische Musikerinnen und Musiker spielen und singen zugleich. Sie verzieren ihre Melodien mit melismatischen Umspielungen und unterbrechen sie für improvisierte Zwischenspiele. Sie spiegeln darin, was Musik auf Madagaskar bedeutet: sie ist eine gesellige Kunst, die Instrumentalspiel und Unterhaltung mit Virtuosität vereint. In allen Bereichen des Lebens taucht sie auf als bindendes Glied, wo Menschen zusammen kommen. Bei der Arbeit, zu Familienfesten, dem Volksschauspiel Hira Gasy oder bei den vielen Ahnenkulten.

Wie der Kuckuck seine Eier in fremde Nester mogelt

Im Geflecht der bunten musikalischen Vielfalt Madagaskars fügt sich auch das ein oder andere Märchen ein, so wie Geschichten und Sagen, Musik, Worte, Klänge und Bewegung auf den madagassischen Dorfplätzen, wo sich die Menschen treffen, seit jeher verschmelzen. Eines der Märchen handelt vom Kuckuck und wie es dazu kam, dass er seine Eier fremden Vögeln unterschiebt.

"Ein Sohn Zanaharys war gestorben. Der Vater rief sämtliche Lebewesen der Erde zusammen, damit sie bei der Bestattung die Trauerlieder sängen. Auf Befehl Zanaharys begannen alle mit dem Gesang, aber bald wurden etliche müde, und man vernahm ihre Stimmen nicht mehr. Nach Verlauf einer Stunde sangen nur noch sehr wenige Trauerlieder. Und nach zwei Stunden hörte man fast keinen mehr. Als die dritte Stunde zu Ende ging, waren alle heiser und stimmlos geworden, nur der Kuckuck sang noch aus vollem Halse. Tag und Nacht sang er, bis Herr Zanahary ihm schließlich Einhalt gebot. Als der Kuckuck ihn nun um eine Belohnung bat, sprach Zanahary: „Ich bin mit dir zufrieden. Fortan sollst du dir, wenn du Eier legen willst, nicht wie andere Vögel ein Nest bauen. Denn du musst doch jetzt sehr müde sein, nachdem du solange gesungen hast. So sollst du deine Eier in die Nester anderer Vögel legen, du darfst ihre hinauswerden und zerschlagen, damit du Platz für deine eigenen bekommst. Die anderen Vögel sollen die Mühen haben, deine Eier auszubrüten, aber du brauchst es nicht!“

Ein tiefes Brummen als Signal – die Antsiva

Antsiva - Muschelhorn aus Madagaskar | Bildquelle: © Wikipedia Antsiva - Muschelhorn | Bildquelle: © Wikipedia Ein weiteres Instrument, das es nach Madagaskar geschafft hat, ist die Antsiva - das Muschelhorn. Wieder waren es die ersten Seglerinnen und Segler aus Südostasien, die dieses archaische Instrument mitgebracht haben. Noch heute ist es in der polynesischen Inselwelt zu Hause.

Auf Madagaskar hatte sich das Muschelhorn mehr und mehr zu einer muschelförmigen Schale entwickelt, der man ein tiefes Brummen entlocken konnte. Es wurde als Signalinstrument eingesetzt, um die Menschen zu versammeln, zu "Palavern", zu spirituellen Handlungen und Gottesdiensten. Die Rebellen verwendeten die Antsiva, um die Truppen zusammenzurufen und sie im Kampf anzuspornen. Heute ist das Instrument in den Liedern und Tänzen weitestgehend verstummt und eher als Exponat im Museum zu finden.

Oft im Einsatz ist dagegen die Korintsana, eine schnarrende Rassel. Sie besteht aus einem Holzbündel. Die vielen kleinen Stäbe werden gegen einander geschlagen. Verbreitet ist auch die Marovany, eine Kastenzither, die wohl verwandt ist mit Zithertypen aus Europa. Im 18. Jahrhundert, so vermutet man, hat sie sich nach der Ankunft der Europäer etabliert und sich dann vom Norden der Insel allmählich bis in den Süden ausgebreitet.

Die Kabozy – eine kurze Laute als Snaredrum

Kabozy - Zuprinstrument aus Madagaskar | Bildquelle: © Wikipedia Kabozy | Bildquelle: © Wikipedia Eine wichtige Rolle im Musikleben Madagaskars spielt auch die Kabosy. Das gitarrenähnliche Zupfinstrument hat auch eine lange Reise hinter sich. Mit den arabischen Siedlungsströmen vor 800 Jahren hat sie sich auf die Seereise begeben - die "kurze Laute", die im Türkischen "quawuz, qabuz oder qaquz" genannt wurde. Daraus leitet sich der madagassische Name Kabosy ab. Sie hat vier Saiten, die heute nicht mehr aus Sisal, sondern aus Nylon oder Metall gefertigt werden.

Die Kabosy hört man häufig im südlichen Hochland. Sie galt einst als typisches Instrument der Straßenjungs, Tagelöhner und Hirten und wird gerne sehr rhythmisch und perkussiv gespielt. Ihr heller Klang vibriert wie eine Art Snaredrum. Schwirrend-flirrend gesellt sie sich unkompliziert zu den Melodien.

Die Musik Madagaskars lebt von wunderbar leichten und swingenden Rhythmen und Gesängen, die die Sorgen und Nöte des Alltags zu verdrängen scheinen - kein Fest ohne Musik. Dort, wo Menschen zusammenkommen, scheint sie wie von selbst zu entstehen. Das ist bei der auf der Insel herrschenden Armut eine Üppigkeit, die berührt.

Musik empfängt die Gäste und wie in dem Lied "Ho avy izahay" beschrieben nicht zu vergessen:  

Bringt scharfe Getränke mit
Und vergesst die Zigaretten nicht,
denn diese beiden bringen alles zusammen:
die Erde und der Himmel werden andere Farben bekommen

Sendung: "Musik der Welt" am 22. Oktober 2022 ab 23:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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