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Schlagzeuger Christian Lillinger Unbedingter, wahrhaftiger Selbstausdruck

Der Schlagzeuger Christian Lillinger polarisiert. Er ist ein kompromissloser Kreativberserker mit selbstgewisser Haltung in Bezug auf seine Kunst - den Jazz. Es geht ihm dabei immer um das Finden eigener Strukturen und Klänge. Die "Jazztime" sendet am 28. Juni ein Konzert mit Lillingers Quartett "Amok Amor".

Schlagzeuger Christian Lillinger | Bildquelle: © Konstantin Kern

Bildquelle: © Konstantin Kern

"Ich war ein ziemlicher Außenseiter und ich wollte irgendwas finden, wo ich mich zuhause fühle. Und da kam das Schlagzeug und die Beschäftigung mit mir, mit meinem Wesen und was ich überhaupt will. Und ich konnte es halt so zusammenspinnen. Man strickt sich quasi die eigene Struktur, in der man leben möchte" - das sagt der Schlagzeuger und Komponist Christian Lillinger über sich, einer der interessantesten Musiker der jungen deutschen Jazzszene. In den vergangenen 12 Jahren hat er bei über 70 Einspielungen mitgewirkt, u.a. mit den Jazzlegenden Rolf und Joachim Kühn. Etwa ein Drittel dieser Alben aber hat er mit eigenen oder von ihm co-geleiteten Gruppen aufgenommen.

Warum muss man die alte Grammatik immer wieder auflegen? Man muss in der jetzigen Zeit seine Sprache formulieren.
Schlagzeuger Christian Lillinger

Mit Anfang Zwanzig legte Lillinger in der Jazzszene so richtig los, mit den Bands "Sonne" und "Hyperactive Kid". Aus dem "hyperaktiven Kind" war da schon längst ein Schlagzeuger geworden, dessen hochkomplexe polyrhythmische Musikarchitekturen aus dem Ad Hoc auch für versierte Musikerkollegen nicht immer leicht nachzuvollziehen sind. Seine Spieltechnik ist immens und hinzu kommt der unbedingte Wille zum wahrhaftigen Selbstausdruck. Den lebt er auch im Quartett "Amok Amor" mit Trompeter Peter Evans, Saxophonist Wanja Slavin und Bassist Petter Eldh.

Standards? Nein danke!

Das Repertoire der Jazzgeschichte neu ausdeuten will Christian Lillinger nicht - trotz der Traditionslinie, die für Quartette ohne Harmonieinstrument wie "Amok Amor" bei Ornette Coleman in den späten 1950er Jahren begonnen hat. "Warum muss man die alte Grammatik immer wieder auflegen?", fragt Lillinger. "Das ergibt gar keinen Sinn. Man muss in der jetzigen Zeit seine Sprache formulieren. So eine Musik, wo man quasi das Erbe zeigt: OK, das kann man auch machen: Das ist dann angewandte Kunst. Man nimmt die Kunst, die damals war und versucht sie zu präsentieren, damit sie nicht in Vergessenheit gerät. Und dann gibt es die Leute, die sich entscheiden, Kunst zu machen. Und für mich ist Kunst auch Jazz, improvisierte Musik und Im-Moment-Agieren. Es ist wichtig, dass du dir immer eigene Strukturen bildest und nicht anfängst, Standards zu spielen."

Elf Projekte

Das Quartett Amok Amor gehört zum Stamm von insgesamt elf Projekten, die der Schlagzeuger Christian Lillinger derzeit auf seiner Website auflistet. Als Bandleader und Co-Leader gestaltet er deren Ausrichtung maßgeblich mit. Sein Sextett "Grund" ist da unter anderem genannt, das Quartett "Kuu" mit der Ausnahmevokalistin Jelena Kulic und den beiden Gitarristen Kalle Kalima und Frank Möbus, und das Trio "Grünen" mit Pianist Achim Kaufmann und Bassist Robert Landfermann. In jeweils ganz eigener Weise definiert Lillinger in den unterschiedlichen Konstellationen das, was er die "neue Grammatik" nennt: "Die neue Grammatik ist jedes Mal anders und definiert sich auch durch die verschiedenen Musiker, mit denen man zusammenarbeitet. Da gibt es viele Wege, die man gehen kann. Und dann musst du kreieren, forschen, Dinge machen. Das ist nie ein Ankommen, du musst es die ganze Zeit am Laufen halten durch Arbeiten, durch permanentes, neues Entwickeln dieser Strukturen".

Die Band Amok Amor mit Schlagzeuger Christian Lillinger | Bildquelle:  www.christian-lillinger.com Amok Amor | Bildquelle: www.christian-lillinger.com Mit den Musikern von "Amok Amor" forscht Christian Lillinger seit 2015. Zwei von ihnen leben wie er in Berlin: der dänische Bassist Petter Eldh ebenso wie der einst in Bayern verortete Saxophonist Wanja Slavin. Mit ihnen spielte Lillinger zuerst im Trio, dann lernten die drei Musiker beim Bezau Beatz Festival in Österreich den New Yorker Trompeter Peter Evans kennen: ein Virtuose, übrigens auch mit klassischem Background, der ein Star der freien Musikszene ist. Acht Alben hat Evans mit dem ebenfalls ohne Harmonieinstrument auskommenden Quartett "Mostly Other People do the Killing" aufgenommen.

In Bezau gab es einen gemeinsamen Auftritt mit Lillinger und seinem Trio und eine Studiosession aus dem Stand. Seitdem gehört Peter Evans auch zu Amok Amor. Im März dieses Jahres war das Quartett wieder auf Tour und machte dabei auch für eine Aufnahmesession Halt im Studio Franken des BR in Nürnberg.

Spannender Werdegang

Christian Lillinger wurde 1984 geboren und ist im kleinen Ort Kuschkow im Spreewald aufgewachsen. Zuerst entdeckt wurde er von einer führenden Figur der DDR Free Jazz Szene. Das war 1999, als der Schlagzeuger Günther "Baby" Sommer, Professor an der Musikhochschule in Dresden, den Teenager beim Tag der offenen Tür kennenlernte und sich von ihm etwas vorspielen ließ. Ein Jahr später war Christian Lillinger - dank einer Sonderregelung für Hochbegabte - eingeschriebener Student. Als er vier Jahre später mit 21 seinen Abschluss machte, hatte er seinen Hauptwohnsitz schon nach Berlin verlegt und brachte dort seine ersten elektrisierenden Projekte auf den Weg.

Wie spannend sein Werdegang verlief, wie ihm dabei Bewunderung und Skepsis bis hin zur kompletten Ablehnung entgegengebracht wurden, was Kollegen, was Familie, Festival- und Labelchefs über seine künstlerisch-menschliche Haltung zu sagen haben, schildert Jan Bäumer in seinem wirklich sehenswerten Dokumentarfilm "Gegen den Beat", der noch bis zum 19. September auf der Website von 3sat abrufbar ist.

Verzicht auf Massentauglichkeit

Im Frühjahr hat Christian Lillinger mit "Amok Amor" eine zweite CD mit dem Titel "We know not what we do" herausgebracht. Einmal mehr bestechen darauf seine enorme Spieltechnik, das Vermögen, die vertracktesten metrischen Ebenen zu verschalten - in sich und im Diskurs mit seinen Mitmusikern - sein Sound und seine Dynamik vom Flächenspiel bis zur feinziselierten Klangskulptur, und sein unbedingter musikalischer Formulierungswille. Dass Christian Lillinger ein echter Ausnahmekünstler ist, der nicht auf Massentauglichkeit abzielt, wird von vielen Seiten gewürdigt. Im Februar 2017 wurde ihm der SWR Jazzpreis zuerkannt, unter anderem - wie in der Jurybegründung vermerkt - weil er ständig nach Erweiterungen seines Ausdrucksspektrums suche. Eine Suche, die sich für alle spannend gestaltet, die von Jazz überrascht und angefasst werden wollen.

Sendung: "Jazztime" am 28. Juni 2017, 23.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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