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Das Südtirol-Jazzfestival feiert 40-jähriges Bestehen Wo Songs und Bands geboren werden

Hinreißende Kulissen, und ein Programm mit weitem Horizont: Das Südtirol-Jazzfestival feiert im Jahr 2022 sein 40-jähriges Bestehen. Das diesjährige Programm – das Festival geht noch bis Sonntag, 3. Juli – steht unter dem Motto "Europa".

Simone Grazianos Frontal beim Südtirol Jazzfestival in Bozen 2022 | Bildquelle: Roland Spiegel

Bildquelle: Roland Spiegel

Ein Konzert in 2.000 Metern Höhe, auf dem Speikboden in den Zillertaler Alpen. Drei Musiker mit E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug vor einer kleinen Bretterwand, ihnen gegenüber räkelt sich das Publikum auf einem grünen Hang. Eine schönere Atmosphäre für ein Konzert am frühen Nachmittag lässt sich kaum vorstellen. Und eine bessere Kombination eines anspruchsvollen Programms mit touristischen Attraktionen ebenfalls nicht, Denn es ist keineswegs eine bekannte Band mit leicht konsumierbaren Tönen, die hier spielt – sondern das experimentierfreudige Trio des französischen Gitarristen Pierre Tereygeol: Avantgarde-Sound in der Höhenluft.

Ein Festival für Neues und Zeitgemäßes

Musiker und Publikum wissen es seit langem: Beim Südtirol-Jazzfestival (offizieller Name, zweisprachig verschränkt: “Südtirol Jazz Festival Alto Adige”) sind möglichst neue und herausfordernde Töne bestens zuhause – und finden ein Publikum. Seit 2004 hat der Bozener Arzt und Jazzkenner Klaus Widmann dem Festival ein weit über Südtirol hinaus geschätztes Profil gegeben. Er habe “Internationalität nach Südtirol bringen” wollen, mit dem Ziel, “etwas entstehen zu lassen, das neu und zeitgemäß ist”. Das ist ihm gelungen. Mindestens aus Österreich und Deutschland reisen Gäste zum Festival an, Fachpublikum auch aus anderen europäischen Ländern. Mit Schwerpunkten aus unterschiedlichen Ländern Europas konnte das Festival immer Entdeckungen bieten – auch für Musikjournalisten, die sowieso das ganze Jahr auf Entdeckungsreise sind. “Europa” heißt das Motto diesmal– und europäischer Zusammenhalt ist Thema der Stunde.

Geburt eines Songs

Gitarrist Pierre Tereygeol in Bozen 2022 | Bildquelle: Roland Spiegel Gitarrist Pierre Tereygeol | Bildquelle: Roland Spiegel Die Gruppe Xaman von Gitarrist Pierrre Tereygeol gehörte zu den Entdeckungen, die man an den Anfangstagen des Festivaljahrgangs 2022 machen konnte. Seine E-Gitarre zupft Tereygeol in faszinierenden rhythmischen Patterns, die an afrikanische Saiteninstrumenten-Musik erinnern. Darüber singt er mit einer ausdrucksvoll schwebenden Stimme Melodien mit fast orientalisch wirkenden Verzierungen. In der kräftigen Sonne auf dem Speikboden verstimmt sich die Gitarre schneller als normalerweise. Und der Musiker fragt das Publikum: “Are you not too much cooking?” Doch die dichten Stimmungen der Songs halten alle bei der Stange. Ganz am Ende kündigt Tereygeol ein ganz neues Lied an, für das er sich das Textblatt an einem Monitor befestigen lässt, denn er könne den Text noch nicht auswendig. Ein Wiegenlied für ein noch ungeborenes Kind sei es, sagt Tereygeol, singt es innig und sagt hinterher: “Now the song is born”. Ein unwiederbringlicher Moment.

Der Vokal-Artist und die wichtigen Impulse

Was für Impulse das Südtirol-Jazzfestival manchen Musikern in den letzten Jahren gegeben hat, brachte der Schweizer Vokalist Andreas Schaerer bei seinem Open-Air-Konzert im Bozener Kapuzinerpark besonders treffend rüber. Schaerer ist ein Sänger, der mit dem Mund Percussion-Instrumente nachahmt und gleichzeitig darüber Melodien und Texte improvisieren kann. Alles mit denselben Mundwerkzeugen und ohne elektronisches Zusatzgerät. Kaum zu glauben, wenn man es nicht schon erlebt hat. Aus einer musikalischen Solo-Performance machte er in Bozen eine rhythmisch unterfütterte und mit musikalischen Einwürfen durchsetzte Dankesrede an das Festival.

Wirbelnde Wunderstimme und groovende Gitarre

Kalle Kalima und Andreas Schaerer in Bozen 2022 | Bildquelle: Roland Spiegel Kalle Kalima und Andreas Schaerer in Bozen 2022 | Bildquelle: Roland Spiegel Zwischen imitierten Trompeten-Tönen und knackender, beatboxender Mundpercussion erzählte der Sänger Folgendes: 2009 sei er zum ersten Mal nach Südtirol eingeladen worden, dann schlug ihm der künstlerische Leiter vor, doch spontan mit einigen anderen anwesenden Musikern gemeinsame Programme zu entwickeln, nach dem Motto: “Wir hätten da noch eine Minute Probenzeit frei." Das fand er anfangs seltsam – doch Manches, was diesen außergewöhnlich profilierten Musiker seitdem geprägt hat, entstand durch Begegnungen beim Südtirol-Jazzfestival, etwa Projekte mit den französischen Musikern Vincent Peirani und Émile Parisien. Oder auch mit dem in Deutschland lebenden finnischen Gitarristen Kalle Kalima. Mit dem trat Schaerer nun in Bozen im Duo auf – denn das ursprünglich geplante Programm mit der Sängerin Leila Martial konnte nicht stattfinden. Mit Kalle Kalimas rockig-kantiger Gitarre ging Schaerers durch unterschiedlichste Tonhöhen wirbelnde Wunderstimme fesselnd schöne, mitreißende Dialoge ein – unter anderem mit Charles Mingus’ herrlicher Ballade “Goodbye Pork Pie Hat” und dem Prince-Song “Sign O’ The Times”. Jubel für ein fesselndes Duo, dessen Musik abseits aller Stil-Kategorien einen hohen, ganz eigenen Reiz entfaltet.

Musik im Keller eines der ältesten Häuser Bozens

Der eigene Reiz: Das ist das Besondere an dem 1982 gegründeten Festival, das von Bozen aus Musik an viele unterschiedliche Orte in Südtirol trägt, Brixen und Meran etwa, aber auch auf den Wolkenstein in Gröden. An Orten im Grünen, aber auch etwa im anheimelnd unterirdisch riechenden Keller des Waaghauses, eines der ältesten Gebäude Bozens mit Teilen, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, finden die Konzerte statt. Das Waaghaus, einst Sitz der öffentlichen Getreidewaage, ist seit 2020 restauriert und beherbergt neben dem Jazzfestival-Büro auch unter anderem die Busoni-Mahler-Stiftung.

Spieluhren gegen heftigen Rocksound

Oliver Steidle und Steffi Narr im Bozener Waaghaus 2022 | Bildquelle: Roland Spiegel Oliver Steidle und Steffi Narr im Bozener Waaghaus | Bildquelle: Roland Spiegel Im warmen Keller – an einem Tag mit über 34 Grad Hitze – spielten die Gitarristin Steffi Narr und der Schlagzeuger Oliver Steidle ein gewitterndes, frei improvisiertes Duo: bretternde Sounds – und ein ganz poetisches Ende mit zwei Daumenklavieren und Spieluhren, die dem kraftstrotzenden Klang entgegengesetzt wurden. Am selben Abend dann im Sudhaus einer Bozener Brauerei raunte die amerikanische Spoken-Word-Künstlerin Moor Mother mit tiefer, erdiger Stimme zur eruptiven Percussion zweier hoch-inspirierter Begleiter Beschwörungsformeln ins Publikum: “I know there is another way. What are we waiting for? What are you waiting for?”

Vogelgezwitscher antwortet auf ein Cello

Schon in den ersten Tagen: ein Festival voller eindringlicher, starker Momente. Unter den bitter nötigen Sonnenschirmen an einem kleinen Open-Air-Spielort des Klosters Neustift bei Brixen war etwa das Duo des slowenischen Cellisten und Schlagzeugers Kristjan Krajncan und des Saxophonisten und Bassklarinettisten Dan Kinzelman zu hören. Elegische Stücke und vertrackte, von Minimal-Music inspirierte Kompositionen, bei denen sich die Instrumente sensibel-klangvoll miteinander verschränkten. Und schöne Live-Augenblicke, wenn Vogelgezwitscher aus einem Baum am Spielort auf Töne des Cellos und einer von Dan Kinzelman zwischendurch eingesetzten Okarina antwortet. Dan Kinzelman spielte an einem anderen Tag auch in der Band “Frontal” des Pianisten Simone Graziano mit – wo unter anderem auch der in vielen Konzerten dieses Festivals vertretende ausdrucksstarke niederländische Gitarrist Reinier Baas zu hören war. Eine Band, die laut dem Pianisten und Leader nur in dieser Besetzung existiert, weil die Musiker bei einem früheren Festival in Bozen aufeinandertrafen.

Klavier solo – und Körper solo

Zu den Highlights des ersten Tages gehörte das Projekt “Embracing” des Pianisten Simone Graziano (“Piano Solo”) und der Tänzerin Claudia Calderano (“Corpo Solo”). In langem, ruhigen Fluss ergänzten sich die Klaviertöne und die wie schwebenden Bewegungen der durch ein Podest erhöhten Tänzerin. Die brach einen besonders leisen Moment dann bewusst mit krachenden Tönen des auf das Podest heruntersausenden Körpers, So einfach kann man einem fasziniert lauschenden und schauenden Publikum künstlerisch das übersetzen, womit alle in diesen Zeiten im realen Leben konfrontiert sind.

Drehleier und Bands aus Österreich

Noch bis zum 3. Juli findet das Festival statt, unter anderem mit herausragenden österreichischen Künstlern, wie dem Drehleier-Spieler Matthias Loibner und den Bands Edi Nulz und Die Strottern.

Festivalchef – ausgerechnet zum Abschied Covid

Einer konnte die vielen Verbeugungen vor seiner starken Programm-Arbeit in den ersten Tagen nicht miterleben: der künstlerische Leiter und Festivalpräsident Klaus Widmann. Denn kurz vor Beginn des Festivals hatte er einen positiven Covid-Test. Dabei gab es gerade diesmal besonders viele Besucher*innen und Musiker*innen, die ihn gern noch einmal erlebt hätten: Im Jahr des 40-jährigen Bestehens übergibt Widmann nach dem Festival die Leitung an ein junges Team. Die Eröffnungsrede mit der Ankündigung des Wechsels an der Festivalspitze musste er jedoch aus dem Off halten, mit einem vorbereiteten Soundfile: Den Applaus für seine großartige Arbeit konnte er somit gar nicht selbst miterleben. Er wird ihn aber sicher mit großem Nachhall später erreichen.

Mehr Infos

Das Südtirol-Jazzfestival 2022 läuft noch bis einschließlich Sonntag, 3. Juli.
Informationen zu Programm und Locations erhalten Sie auf der Homepage des Festivals.

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