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Flamencosänger Enrique Morente Der Freigeist aus Granada

Anfangs galt er als Rebell, der sich gerade unter den Puristen der Flamencokunst nicht nur Freunde machte: Enrique Morente. Heute ist der Sänger eine Legende und wird als einer der großen Neuerer des Flamencos verehrt. Er starb mit nur 67 Jahren, am 25. Dezember hätte er seinen 80. Geburtstag gefeiert.

Enrique Morente | Bildquelle: © Manuel Montano

Bildquelle: © Manuel Montano

Enrique Morente hat den Flamenco und die nachfolgende Künstlergeneration geprägt wie kaum ein zweiter. „Wir alle sind seinem Gesang gefolgt und haben davon gelernt. Was mich aber am meisten inspiriert hat, ist seine Aufgeschlossenheit: dass man von allen möglichen Seiten etwas für sich nehmen und aus sämtlichen Quellen des Flamencos schöpfen kann“, sagt Argentina, eine der wichtigsten Flamencosängerinnen von heute.

Wahrhaftigkeit beim Singen

Morente kannte die Tradition der aus dem Volk hervorgegangenen Flamencomusik Südspaniens genau, wusste um den Gesangsstil und die verschiedenen Formen des Genres, da er damit aufgewachsen war und sich diese Kunst von Grund auf zu eigen gemacht hatte. Er konnte den ganz ursprünglichen cante jondo singen und war dennoch am Puls der Zeit, experimentierte mit anderen Genres: Jazz, Rock, Hindu-Musik, Folklore aus anderen Ländern.

Was die Kunst von Enrique am meisten auszeichnet, ist seine Wahrhaftigkeit beim Singen
Carmen Linares (Sängerin und Weggefährtin Morentes)

Morente war ein Poet des Flamencos, der diese Musik literarisierte und Texte der wichtigen spanischen Dichter sang: Federico García Lorca, Antonio Machado, Miguel Hernández.

El Ronco del Albaicín – Der Raue vom Albaicín

Der Albaicín ist das verwinkelte Viertel, das sich in Granada direkt gegenüber der Alhambra den Berg hinaufzieht mit seinen vielen Treppen, kleinen Plätzen und versteckten Aussichtspunkten; mit seinen Bewohnern, die sich alle kennen, und mit seinem einfachen Alltagsleben. Dort wurde Enrique Morente am Weihnachtstag des Jahres 1942 geboren.
„El Ronco del Albaicín“ – der Raue vom Albaicín, so wurde und wird Morente wegen seiner markanten und dennoch geschmeidigen Stimme auch genannt. Im Ambiente dieses damals noch ursprünglichen und einfachen Viertels voller Tradition hatte er schon als Kind den Flamenco miterlebt.

Der Gesang beginnt, wenn man in ihn hineingeboren wird, wenn man andere Menschen in seinem Dorf singen hört, wenn man Menschen in ihrem Heimatland hört
Enrique Morente

Carmen Linares - verso a verso | Bildquelle: © Salobre Carmen Linares | Bildquelle: © Salobre

Mit nicht einmal 19 Jahren zog es Morente nach Madrid, wo er einigen der großen alten Meister des Flamencos begegnete. In der spanischen Hauptstadt gab es zwar eine aktive Flamencoszene, man konnte diese Musik damals, Anfang der 1960er Jahre, aber nur in dunklen und etwas verrufenen Lokalen erleben. Dort trat Morente zum ersten Mal öffentlich auf, nachdem er die Flamencokunst von einem der wichtigsten Flamencosänger und Bewahrer des traditionellen Gesangsstils gelernt hatte: Pepe el de la Matrona. „Schon damals hatte er, obwohl er noch sehr jung war, eine große Persönlichkeit“, erinnert sich Carmen Linares, mittlerweile selbst eine Legende des Flamencogesangs und langjährige künstlerische Weggefährtin Morentes.

Revolutionär des Flamencos

Der ganz klassische Flamenco war für Enrique Morente die Grundlage all seiner Musik. Damit hat er angefangen, ihn hat er sich erarbeitet. Als er in den 1970er Jahren seine ersten großen Erfolge auf der Bühne und auf dem Plattenmarkt hatte, konnte noch keiner ahnen, dass diese Stimme einmal den Flamenco revolutionieren würde.
In den 1980er Jahren fing Morente dann an, die traditionellen Wege zu verlassen. Er arbeitete mit Musikern und Künstlern aus anderen Genres zusammen, begann den Flamenco mit anderen Musikstilen zu fusionieren. „Er kannte die authentischen Wurzeln genau, aber er war sehr offen“, so der Komponist Mauricio Sotelo. Aus der Begegnung von Morente und Sotelo ging eine Verbindung von Flamenco und Neuer Musik hervor.

Wirkliche Avantgarde und richtige Experimente hat sich damals niemand außer Enrique Morente getraut
Mauricio Sotelo

Eines der radikalsten Experimente war Mitte der 1990er Jahre die Zusammenarbeit mit der auch aus Granada stammenden Rockband Lagartija Nick. Damals wollte die Fusion von Flamenco und Rock keiner hören, heute ist diese Musik Kult. Auf diese Weise brach Enrique Morente mit sämtlichen Klischees des Flamencos.

Kult und Vorbild für die nächste Generation

Estrella, Solea und José Enrique Morente | Bildquelle: picture-alliance/dpa Estrella, Solea und José Enrique Morente | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Der Gesang von Enrique Morente und sein Umgang mit dem Flamenco haben Schule gemacht. Seine drei Kinder Estrella, Soleá und Kiki sind auch alle Flamencosängerinnen und - sänger und tragen das familiäre Erbe weiter. Aber auch die vielen anderen Cantaores von heute beziehen sich auf den Stil von Morente, wie etwa der Spanier Segundo Falcón: „Gerade wegen dieser Idee, dass man noch auf etwas Anderes als nur auf die Klassiker schauen soll, stütze ich mich sehr auf die Schule von Enrique Morente.“

Er hat immer die Jugend und die neuen Flamencosänger unterstützt, denn er wusste genau, wie hart man als junger Künstler kämpfen muss
Argentina

Morente schaffte es, ein breiteres Publikum für den Flamenco zu begeistern. Es gelang ihm, diese Kunst, die Jahrzehnte lang vor allem etwas für Insider und Puristen war, im besten Sinne des Wortes populärer zu machen. Von Beginn an focht er einen kreativen Kampf gegen die Engstirnigkeit einer bis dato sehr verschlossenen Welt und einer sehr hermetischen Szene aus.

Künstlerischer Vater, dessen Gesang weiterlebt

Argentina - Flamencosängerin | Bildquelle: © Alberto Diaz Argentina | Bildquelle: © Alberto Diaz

Im Dezember 2010 schockte der völlig unerwartete Tod von Enrique Morente mit nur 67 Jahren an den Folgen einer Magen-Operation die Flamencowelt. Er war nicht nur der Raue, sondern vor allem der Freigeist vom volkstümlichen Albaicín, und sein Gesang lebt weiter. Ein Rebell des Flamencos, der noch ganz aus der klassischen Schule kam und diese Kunst revolutioniert und für Neues geöffnet hat. Genau davon profitiert die heutige Flamencoszene, wie es die Cantaora Argentina auf den Punkt bringt: „Wir Flamencosänger empfinden ihn alle als einen künstlerischen Vater. Wo auch immer er sich jetzt befindet, wir lernen immer noch von ihm und vermissen ihn sehr.“

Sendung: "Musik der Welt" am 17. Dezember 2022 ab 23:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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