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US-Trompeter Wynton Marsalis im Interview "Es ist ein Kampf, in der Musik und im ganzen Land"

Wynton Marsalis wurde 1961 in New Orleans geboren und ist seit 40 Jahren in der Musikszene aktiv, in der Klassik und im Jazz. Er ist künstlerischer Leiter von "Jazz at the Lincoln Center", einer Kulturinstitution in New York mit dazugehöriger Bigband, die Marsalis dirigiert. Er ist ein streitbarer Musiker mit klaren Ansichten zu Musik und Gesellschaft. Halbherzigkeiten mag er nicht, das merkt man schnell im Gespräch mit ihm. Sein aktuelles Album "The Ever Fonky Lowdown" steht in einer langen Reihe mit Werken, die sozialkritische und politische Aussagen treffen.

Trompeter Wynton Marsalis | Bildquelle: Frank Stewart

Bildquelle: Frank Stewart

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Wynton Marsalis im Interview

BR-KLASSIK: Sie äußern sich in ihren Werken immer wieder politisch und sozialkritisch. Ist Jazz als Musik dazu besonders geeignet?

Wynton Marsalis: Musiker haben immer schon sozialkritische Dinge gesagt. Jazz ist als Ausdrucksform dafür perfekt, weil afroamerikanische Menschen schon immer unter der Last leiden, im Land der Freiheit frei zu sein, aber eine Mehrheit möchte sicherstellen, dass sie genau das nicht sind: frei.

BR-KLASSIK: Greifen Sie in Ihren Werken konkrete Ereignisse auf?

Wynton Marsalis: Es geht um zeitlose Angelegenheiten der Menschheit. Es wird immer Korruption, Gier, despotische, wirtschaftliche oder religiöse Anführer geben, die einen irren Pfad aufzeigen. Es wird immer Propaganda geben und Menschen, die leichtsinnige Risiken eingehen. All das kommt in "The Ever Fonky Lowdown" vor und dieses Werk ist verwandt mit "All Rise" (Anm. d. Red.: Album von 1999 mit dem Los Angeles Philharmonic und dem Dirigenten Esa-Pekka Salonen)

Instrumentalmusik ist kraftvoll

BR-KLASSIK: Auf Ihrem aktuellen Album "The Ever Fonky Lowdown" ist fast durchgehend Musik mit Gesang zu hören, und ein Sprecher kommt auch sehr prominent vor. Können Sie durch den Text eine stärkere Botschaft vermitteln als durch Instrumentalmusik?

Wynton Marsalis: Instrumentalmusik kann viel mehr. Worte sind nicht so abstrakt, aber Instrumentalmusik ist sehr spezifisch. Etwa die von Beethoven oder das "Siegfried-Idyll" von Wagner oder John Coltranes "Love Supreme". Diese Musik hat keine Worte, aber sie ist kraftvoll. Sie spricht immer noch zu uns auch nach all der Zeit.

Wynton Marsalis auf BR-KLASSIK

"Jazztime" am 30. Oktober 2020, ab 23:05 Uhr
Jazz Unlimited: Wynton Marsalis
Moderation und Auswahl: Ulrich Habersetzer

Musik kann das Bewusstsein verändern

BR-KLASSIK: Glauben Sie, Sie können mit Ihrer Musik etwas verändern?

Wynton Marsalis: Musik hat die Kraft, das Verständnis und Bewusstsein der Menschen zu verändern. Nicht wie eine militärische oder politische Handlung, aber sie kann Menschen zum Handeln inspirieren. Das ist der Grund, warum etwa die Musik von Schostakowitsch uns immer noch dazu inspiriert, für Freiheit zu kämpfen.

BR-KLASSIK: Sie sind seit 40 Jahren in der Jazzszene aktiv. Wie beurteilen Sie die Szene gerade?

Trompeter Wynton Marsalis | Bildquelle: Frank Stewart Trompeter Wynton Marsalis | Bildquelle: Frank Stewart Wynton Marsalis: Es gibt sehr viel Rassismus in der Jazzszene, durch die Korruption und die rassistische Art von Jazzkritikern. Alles, was sich gut verkauft, wird gefeiert und die rassistische Idee, dass alles, was schwarze Musiker machen keinen Wert hat, hat überhandgenommen. Bis in die 70er Jahre gab es viele weiße Musiker, die sozial aktiv waren, etwa Benny Goodman, Gene Krupa und Charlie Haden. Ab den 70er Jahren, wo findet man da noch soziales Engagement unter den weißen Musikern, wo unter den schwarzen Musikern? Ganz wenig, unter Weißen oder Schwarzen. Jeder versucht nur Rock'n'Roll zu imitieren oder die Europäische Avantgarde, um von einer kleinen Gruppe von Kritikern gemocht zu werden. Ein fester Club ist das, weiß und rassistisch. Es ist ein Kampf, in der Musik und im ganzen Land. Und hoffentlich können wir genug junge Menschen hervorbringen, die stark genug sind, gegenüber diesen Dingen standzuhalten.“

Rassismus ist ein weltweites Problem

BR-KLASSIK: Wird sich die Lage in den USA nach den Wahlen am 3. November ändern?

Wynton Marsalis: Es ist naiv zu denken, dass die Wahl einer Person eine 400 Jahre alte Situation ändern kann. Das Ganze ist ein weltweites Problem – und das Bewusstsein für ein Miteinander ist sehr gering. Die Gier ist außer Kontrolle. Alle Menschen, die Elite und die Menschen, die nicht zur Elite gehören, müssen zusammen dagegen ankämpfen.
Wir wollen nicht alle Ressourcen in das Finanzsystem und die Regierung stecken, wir wollen keine korrupten Regierungen, wir wollen Menschen nicht quälen, nur weil sie zu einer Minderheit gehören, wir wollen nicht, dass ein Drittel der Welt hungert. Wir wollen unsere Ressourcen teilen, wir wollen den Planeten heilen. Es ist ein langer Weg und der führt nur über einen Bewusstseinswandel. Das kann nicht die Wahl einer einzigen Person erreichen.

Zurück auf der Bühne

BR-KLASSIK: Was kann denn jede und jeder Einzelne tun, damit sich etwas ändert?

Wynton Marsalis: Steh auf gegen Ungerechtigkeit, sei es im Kleinen, im Friseurladen, auf der Straße. Man muss aktiv sein und nicht nur passiv zuschauen. Menschenrechte werden weltweit mit den Füßen getreten. Es gibt unzählige kleine korrupte Handlungen. Wenn du so etwas in dir selbst oder in anderen bemerkst, handle!

BR-KLASSIK: Vor kurzem waren Sie nach langer, coronabedingter Pause wieder auf Tournee. Wie hat es sich angefühlt, zurück auf der Bühne zu sein?

Wynton Marsalis: Es war ein fantastisches Gefühl, auch wenn es bei einigen Konzerten ziemlich kalt war, weil sie Openair stattfanden. Wir haben gespürt, wie hungrig wir aufs Musik machen sind und wie sehr wir es wertschätzen.

Sendung: "Leporello" am 30. Oktober 2020, ab 16:05 Uhr und "Jazztime" am 30. Oktober 2020, ab 23:05 Uhr auf BR-KLASSIK.

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