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Messiaen beim Aldeburgh Festival Vogelkonzert bei Sonnenaufgang

Das einst von Benjamin Britten gegründete Festival in der ostenglischen Küstenstadt Aldeburgh pflegt - neben Aufführungen des Standardrepertoires auf höchstem Niveau - stets auch das Besondere. Einen der Höhepunkte 2016 bildet Olivier Messiaens "Catalogue d'Oiseaux", gespielt von Pianist und Festivalleiter Pierre-Laurent Aimard. Diese Aufführung findet jedoch nicht durchgehend im Konzertsaal statt, sondern über den Tag verteilt an verschiedenen Orten - drinnen und draußen!

Pierre-Laurent Aimard spielt Olivier Messiaens "Catalogue d'Oiseaux" beim Aldeburgh Festival | Bildquelle: © Sam Murray Sutton

Bildquelle: © Sam Murray Sutton

Snape Maltings, vier Uhr morgens - ein sagenhaftes Gelände rund um eine alte Mälzerei, die Benjamin Britten einst zum Konzertsaal umgebaut hat: rote Backsteinbauten, umgeben von Moor- und Schilflandschaft, durch die sich ein schlammiger Fluss windet - das Zuhause von unzähligen Vögeln. Auf Trampelpfaden und Holzbohlen bewegen sich Konzertbesucher durch das Schilf. Sie haben Decken um die Schultern hängen, Kaffee- oder Teebecher in der Hand, manche tragen Gummistiefel, einige Mützen. Es ist frisch, aber nicht wirklich kalt und alle sind froh, dass es nicht regnet. Die Stimmung ist angereichert mit leichter Spannung. Treffen sich Blicke, scheinen sie zu sagen: Wir sind Eingeschworene, wir nehmen hier an etwas Außergewöhnlichem teil. Geredet wird wenig, ab und an etwas gemurmelt.

Klaviermusik im Restaurant

270 Konzertbesucher und -besucherinnen passen in das Restaurant, in dem Pierre Laurent Aimard den ersten Teil von Messiaens "Catalogue d'Oiseaux" spielen wird. Wie aus einem Vogelbeobachtungs-Verschlag sieht man durch große querformatige Fenster auf das Schilf. Einige bleiben draußen - entweder weil sie keine Tickets mehr bekommen haben oder weil sie die echten Vogelstimmen zu den komponierten hören wollen, die durchs Fenster dringen. Es ist schade, ja, eine verpasste Chance, dass man den Flügel nicht - wie ursprünglich geplant - ins Freie gestellt hat. Aber der Brite rechnet eben aus Erfahrung immer mit Regen.

Das Konzert beginnt

Um 4.30 Uhr erklingen die ersten drei von Messiaens Vogelgemälden: der Mittelmeer-Steinschmätzer, der Seidensänger und der Trauersteinschmätzer. Zu ihnen gesellt sich das Zwitschern, Singen, Krächzen, Rufen, Schnattern und Krähen der Vögel im Schilf. Hin und wieder fliegt eine Reihe Gänse am Himmel, tanzt ein kleiner Zaunkönig und ein Rotkehlchen durch die Luft, gespiegelt von der glatten Oberfläche des Flusses.

Die Form ist nicht eine Sonate oder eine Fuge, es sind die Momente eines Tages
Pierre-Laurent Aimard

Pianist Pierre-Laurent Aimard | Bildquelle: Guy Vivien Der Pianist Pierre-Laurent Aimard | Bildquelle: Guy Vivien Der Pianist und Künstlerische Leiter des Aldeburgh Festivals, Pierre-Laurent Aimard, hatte selbst die Idee, Messiaens "Catalogue" hierher zu bringen: "Aldeburgh ist ein idealer Rahmen, um eine Form zu finden, die zu diesem Stück passt, wo der Zuhörer die aufeinander folgenden Tageszeiten erlebt, wie sie Messiaen selbst in die Form seiner Stücke integriert hat", führt Aimard aus. "Die Form ist nicht eine Sonate oder eine Fuge, es sind die verschiedenen Momente eines Tages, mit den Änderungen des Lichts und der Stimmung und der verschiedenen Gesänge." Aimard, der Messiaen kannte seit er zwölf Jahre alt war, bezeichnet dessen Musik als seine Muttersprache. Als Kind hat er es dem Komponisten nachgetan, ist in die Natur gegangen, um den Vögeln zu lauschen. Seine Interpretation sollte möglichst authentisch werden. Zum ersten Mal wird Aimard nun den kompletten, fast dreistündigen "Catalogue" spielen - über einen ganzen Tag verteilt, an verschiedenen Orten, der Natur nahe.

Klanggemälde der Vögel

Messiaen wählt das Klavier für seine Vogelstimmen - und damit ein Instrument, mit dem er mehr als nur nachahmt. Pierre-Laurent Aimard nennt ihn einen Farbenschöpfer, sagt, Messiaen habe im "Catalogue d'Oiseaux" das Klavier neu erfunden. Wie dieses Klanggemälde der Vögel zustande kommt, erklärt er am Tag zuvor am Klavier: "Ein sehr einfaches Beispiel von der Art und Weise, wie Messiaen das Timbre der Vogel in seinen Stücken beschreibt, ist der Gesang des Pirols. Man hört die Melodie in der linken Hand. Ziemlich laut, fließend und mit einer warme Farbe. Und die rechte Hand wird zusätzlich Obertöne addieren, leiser, die sich kombinieren mit dem Grundton, um eine goldene Farbe zu geben."
Dieser Pirol erklingt im zweiten Konzert des Tages, um 13 Uhr. Es ist das einzige mit klassischem Konzertcharakter: in einem Konzertsaal mit ansteigenden Sitzreihen, einer Bühne mit Flügel in der Mitte. Die Konzentration auf die Musik ist hier am größten - keine Ablenkung von außen. Vögel flattern dennoch umher, wenn auch nur in der eigenen Fantasie, inspiriert von Messiaens Klängen.

Dialog in der Natur

Am Abend sind nun endlich alle draußen, in der traumhaften Heidelandschaft von Suffolk. Den dritten Teil von Messiaens "Catalogue" spielt Pierre-Laurent Aimard um 19.30 Uhr in einem Vogelreservat. Das Publikum: eine große, bunte Picknickgesellschaft. Der Himmel ist bedeckt und ein kräftiger Wind weht, aber es bleibt trocken. Auf Campingstühlen und Decken lauschen etwa 250 Menschen mit zerzausten Haaren dem Klavier, während Möwen und Lerchen am Himmel ihre Kreise ziehen. Immer, wenn es in Messiaens Musik besonders deutlich "zwitschert", wartet man gespannt - und tatsächlich: ab und an antwortet ein echter Vogel.

Ende um Mitternacht

20 Stunden nach dem ersten Vogelstimmenkonzert bei Sonnenaufgang endet der Tag mit Messiaens "Catalogue". Kurz vor Mitternacht: Das Publikum liegt auf weichen Matten im abgedunkelten Konzertsaal am Boden. Pierre-Laurent Aimard huscht vogelgleich aus der Finsternis an die Tasten und beginnt ein letztes Mal voller Energie der Klangfarbenpracht Messiaens Ausdruck zu verleihen. Alle sind erschöpft, einige schlafen ein. Am Ende springen aber alle auf, um dieses besondere Ereignis mit viel Applaus zu feiern.

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