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Kostprobe | 18.07.2021 KeyNotes - Frühe europäische Musik für Tasteninstrumente

Ritteressen, Spielleute, Hexenverbrennungen - so stellen wir uns häufig das Mittelalter vor. Die Cembalistin und Organistin Corina Marti setzt dem ein ganz anderes Mittelalter-Bild entgegen: mit kunstvoll verzierter Musik für Instrumente, die exotische Namen tragen wie Clavisimbalum oder Claviciterium.

CD-Cover: Keynotes - Frühe europäische Musik für Tasteninstrumente. Corina Marti | Bildquelle: © Ramée

Bildquelle: © Ramée

Hoch im Norden, da, wo die Elbe ins Meer mündet, in einer alten romanischen Kirche gleich hinterm Deich, steht eine ungewöhnliche Orgel. Ein Instrument mit einer Geschichte, so bewegt wie die Wellen der Nordsee. Äußerlich, mit ihren goldenen Verzierungen, sieht sie aus wie eine Barockorgel. Viele Umbauten hat sie über sich ergehen lassen müssen, sogar der Schriftsteller Hans Henny Jahnn hat sie 1925 restauriert, während er Theaterstücken über Inzest und Verstümmelung schrieb. Aber die Wurzeln dieser Orgel liegen im Mittelalter. Ein Teil der Pfeifen erfüllte das Kirchenschiff schon im 15. Jahrhundert mit Musik. Damit ist die Altenbrucher Orgel, erbaut von einem Kleriker namens Johannes Koch, eine der ältesten der Welt.

Schweizer Mittelalter-Spezialistin

Wie das damals geklungen haben könnte in Altenbruch oder auch anderswo in Europa, in Paris oder Florenz, das zeigt Corina Marti auf ihrer faszinierenden neuen CD. Die Schweizer Mittelalter-Spezialistin erweckt auf der gotischen Orgel die frühesten erhaltenen Handschriften mit Instrumentalmusik wieder zum Leben: den legendären Codex Faenza, das Robertsbridge Fragment, das Buxheimer Orgelbuch und rund ein weiteres Dutzend verstreuter Manuskripte vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Die meisten der kurzen Stücke sind ohne Komponistennamen überliefert, manche haben nicht einmal einen Titel.

Cembalo für den Wohnzimmertisch

Instrumentalmusik: das waren damals Tänze, vor allem aber Intavolierungen, also Instrumentalfassungen von Liedern und Madrigalen, von Motetten und Messen. Die konnten damals auf einer großen stolzen Kirchenorgel wie der von Altenbruch gespielt werden. Aber auch auf einem kleinen Organetto, einer tragbaren Mini-Orgel, die man sich auf den Schoß stellte, um mit der rechten Hand die Melodie zu spielen, während die linke den Blasebalg bedient. Oder auf einem Claviciterium, einem senkrecht stehenden, pyramidenförmigen Cembalo mit flüsternd gedämpften Darmsaiten. Oder auf einem Clavisimbalum, einer Art frühes Cembalo für den Wohnzimmertisch, kaum größer als eine Zither.

Fremde Welt

Diese ganze Vielfalt von mittelalterlichen Tasteninstrumenten bringt Corina Marti stilsicher und überlegt wieder zum Klingen. Manche Stücke wirken karg und herb, andere labyrinthisch und verspielt. Es ist eine fremde Welt, und es braucht etwas Geduld, um sich einzuhören, am besten einen stillen Abend. Aber dann öffnet Corina Marti mit ihrem plastischen Spiel, mit der liebevollen Sorgfalt, die sie jedem Takt zukommen lässt, die Tür zu einem exotisch schillernden Kosmos voll fantastischer Schönheit.

Kunstsinniges Mittelalter

Schade nur, dass der kenntnisreiche Booklettext kaum ein Wort zu den Instrumenten verliert. Umso mehr aber über die verschlungenen kompositionsgeschichtlichen Zusammenhänge. Dabei wird wieder einmal deutlich, wie wenig diese Epoche doch mit der dumpfen Fantasy-Folklore der Mittelalter-Märkte zu tun hat. Und man freut sich, dass wenigstens diese wenigen Noten auf brüchigem Pergament von einem staunenswerten, hochentwickelten, kunstsinnigen Mittelalter zeugen. So wie die kraftvollen Orgelpfeifen aus der St.-Nikolai-Kirche von Altenbruch.

KeyNotes - Frühe europäische Musik für Tasteninstrumente

Corina Marti
Label: Ramée

Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 18. Juli 2021, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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