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Anonymus 4 Autor eines musikalischen Traktats

Autor eines musikalischen Traktats – wichtige Quelle zur mehrstimmigen Musikpraxis an der Kathedrale Notre Dame in Paris um 1200.

Bury St. Edmunds | Bildquelle: John Sutton

Bildquelle: John Sutton

Dass ein Name ein Leben überdauert und für immer mit einem Werk verbunden ist – diese Idee war vor 800 Jahren noch nicht so verbreitet. Sonst wüssten wir wohl, wer uns hier über die Anfänge der mehrstimmigen Musik berichtet. Warum ist er nicht auf die Idee gekommen, einfach seinen Namen unter den Text zu schreiben, dieser Anonymus 4? Wahrscheinlich, weil er seinen Traktat nicht für die Nachwelt verfasst hat, sondern für Leute, die ihn kannten.

Anonymus 4 ist der Autor einer Abhandlung, die in zwei mittelalterlichen Handschriften überliefert ist. Sie liegen heute in der British Library in London. Wie aber ist dieser Autor zu seiner Nummer 4 gekommen? Der französische Jurist und Musikgelehrte Charles Edmond Henri de Coussemaker gab zwischen 1864 und 1876 eine große Anzahl lateinischer Musiktraktate des Mittelalters heraus. Die anonym überlieferten Abhandlungen versah er mit Nummern.

UNGEWÖHNLICHER, PRAGMATISCHER NAME

Weil Coussemakers Edition lange Zeit als einzige diese Quellen zugänglich machte, setzte sich seine Nummerierung allmählich in der Fachwelt durch: Den Autor des vierten Traktats nannte man kurzerhand Anonymus 4. Die beiden Handschriften stammen aus der ostenglischen Benediktiner-Abtei Bury St. Edmunds. Vermutlich war der Verfasser ein Mönch dieses Klosters. Seinen Text schrieb er um 1275 im Anschluss an einen Aufenthalt in Paris – womöglich für seine Klosterschüler, denen er den neuesten Stand der mehrstimmigen Kompositionslehre nahebringen wollte. Musikalische Lehrschriften aus dem Mittelalter sind sehr viele überliefert. Warum wurde gerade die von Anonymus 4 so berühmt?

DIE BEIDEN GROSSEN VORDENKER: LEONIN UND PEROTIN

Anonymus 4 ist einer der wichtigsten Zeitzeugen einer künstlerischen Revolution: Um 1200, als die großen Kathedralen der Gotik in den Himmel wuchsen, schufen Kantoren für den Gottesdienst in Notre Dame monumentale Klangkonstrukte mit bis zu vier Stimmen – die ersten kunstvoll ausgestalteten, mehrstimmigen Kompositionen der europäischen Musikgeschichte.

Und durch Anonymus 4 kennen wir auch die Protagonisten dieser Revolution: die Magistri Leoninus und Perotinus - während sein eigener Name bis heute ein Rätsel bleibt.

Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 27. September 2015, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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