Zu einer Melodie eine zweite hinzuzufügen – diese Idee veränderte die Musik des Mittelalters grundlegend. Wer das als erster umgesetzt hat, ist nicht überliefert – Magister Leoninus ist aber der erste, dessen Namen wir kennen.
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Notre Dame in Paris war eine riesige Baustelle, der Grundstein für den Neubau der gewaltigen Kathedrale wurde 1163 gelegt. Ein unbekannter englischer Musikgelehrter, den man heute Anonymus 4 nennt, stattete der Gesangsschule von Notre Dame einen Besuch ab. In seinem Bericht erwähnt er – an einer einzigen Stelle – zwei hervorragende Musiker namentlich, die ansonsten wohl für immer hinter den namenlosen Musikstücken verborgen geblieben wären: Leonin und Perotin.
"Und beachte, dass Magister Leoninus, nach dem was man sagte, der optimus organista, der beste Organumkomponist, war, der ein großes Buch mit Gradual- und Antiphongesängen zur Ausgestaltung des Gottesdienstes verfasste. Und dieses Buch blieb in Gebrauch bis in die Zeit des großen Perotin.", Anonymus 4
Durch diese zwei Namen, diese beiden herausragenden Musiker, die Anonymus 4 in Paris erlebt hatte, bekommt die Musik der Notre Dame-Epoche ein Gesicht – zum ersten Mal wird in der abendländischen Musik das kreative Individuum greifbar. Dabei ist insbesondere von der historischen Person Leonin wenig bekannt. Die Bezeichnung als Magister lässt den Rückschluss zu, dass er den Rang eines Magister Artium bekleidete und lehren durfte. Besonders angesehen war er für die Technik des Organum duplum, auch Organum purum genannt. Das ist ein zweistimmiges Organum, bei dem über lang gehaltene Choraltöne ein rhythmisch freies Melisma von der Oberstimme gesungen wird.
Leonin wird das gewaltige Werk "Magnus liber organi", das große Buch der Organa, zugeschrieben, eine Sammlung mit zweistimmigen Organa für das komplette Kirchenjahr. Welche Stücke er aber genau schrieb, ist heute nicht mehr eindeutig festzustellen. Manche Forscher vermuten, dass Leonin sogar schon einige der dreistimmigen Organa verfasst haben könnte, eine weitreichende Leistung, die ansonsten Perotin zugesprochen wird. Wie dem auch sei: als Wegbereiter der Mehrstimmigkeit hat Leonin den Grundstein für die Errichtung der "Kathedrale" der europäischen Musikgeschichte gelegt.
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 5. Oktober 2014, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK