Es war ein kompliziertes Unterfangen, das da vor hunderten von Jahren begonnen wurde: Töne, Klänge, Gesänge sollten aufgeschrieben werden – nur: wie? Mit Notationszeichen, den Neumen, der frühesten Notation unserer Kultur.
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Über den Wörtern eines gregorianischen Chorals tanzen seltsame Zeichen: Punkte, Haken, Striche, Höcker und Schleifen. Von Mönchen vor Jahrhunderten auf Pergament gezeichnet, ruhen sie zwischen schweren ledernen Buchdeckeln: die ältesten Notenzeichen des europäischen Abendlandes, die Neumen.
Der größte Unterschied der Neumen zu den Noten, die wir heute benutzen: ein Neumen-Zeichen kann nicht nur einen Ton darstellen, sondern auch eine Folge von zwei oder drei Tönen. Die Neumen-Schreiber des Mittelalters schöpften dazu aus einem großen Pool verschiedener Zeichen. Jedes dieser Zeichen steht für eine bestimmte Tonfolge: zum Beispiel gibt es eine spezielle Neume für die Folge Hochton – Tiefton – Hochton, oder eine andere für die Folge tief – höher – noch höher. Die exakte Tonhöhe zeigen die meisten Neumenschriften nicht an.
Warum aber begann man im 9. Jahrhundert, den gregorianischen Choral mit Neumen aufzuschreiben? Die liturgische Musik wurde im frühen Mittelalter mündlich weitergetragen: Die älteren Mönche unterrichteten die jüngeren und brachten ihnen alle Choräle bei. Eigentlich hätte man also diese Gesänge gar nicht aufzeichnen müssen – sie waren bekannt. Nun war es aber so, dass der Choral überall in Europa etwas anders gesungen wurde. Als die Karolinger im 9. Jahrhundert den größten Teil des Kontinents unter ihrer Herrschaft vereinten, wollten sie auch einen einheitlichen Gottesdienst einführen. Sie erklärten den römischen Ritus zur verbindlichen Form und schickten Mönche aus, ihn überall zu lehren.
Neuerlerntes bleibt nicht so leicht hängen wie das gewohnte – deshalb behalf man sich mit Melodiezeichen als Gedächtnisstütze. Die Neumen waren der Anstoß zu einem Phänomen, das es in dieser Form nur in Europa gibt: einer Musikpraxis, die bis heute auf dem scheinbar widersinnigen Unterfangen beruht, etwas so flüchtiges wie Töne durch Schriftzeichen einfangen zu wollen.
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 10. Januar 2010, 13.05 Uhr auf BR-KLASSIK