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Was heute geschah – 3. Februar 1938 Prokofjews letzte Reise in den Westen

Sergej Prokofjew reist mit dem Schiff nach New York und geht zwei Monate auf USA-Tournee. Es wird eine eigenartige Auslandsreise – und seine letzte aus der UdSSR: "Er war sehr reserviert, zwar wollte er kein Bedauern über die Veränderungen in seinem Leben äußern, aber es sah ganz danach aus, als hätte er Angst, offen zu reden."

Komponist Sergej Prokofjew dirigiert | Bildquelle: Fine Art Images/Süddeutsche Zeitung Photo

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In der UdSSR herrscht längst Terror, Josef Stalin interniert sein eigenes Volk in GULAGs, wegen Nichtigkeiten wird man zum Vaterlandsverräter. Sergej Prokofjew hatte sich nach Jahren im Ausland 1936 freiwillig zur Rückkehr nach Moskau entschlossen. Jetzt, zwei Jahre später, wo er wieder raus will, auf Tournee in den Westen, werfen die Sowjet-Behörden ihm massiv Knüppel zwischen die Beine. Die Vorbereitungen zur Reise sind kompliziert, das Klima auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen ist geprägt von Extremen: "Sonderbar war unser Leben in jener Zeit", erinnert sich später der Schriftsteller Ilja Ehrenburg. "Da gab es alles: Hoffnung und Verzweiflung, Leichtsinn und Tapferkeit, Angst und Würde, Fatalismus und Ideentreue."

Sonderbar war unser Leben in jener Zeit.
Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg

Unter Beobachtung

Jeder, auch jeder Künstler, konnte ins Fadenkreuz der Geheimdienst-Schergen geraten. Eine unbedachte Äußerung war manchmal genug, um die Repressalien des NKWD am eigenen Leib zu spüren. Erfolg schützte vor Verfolgung nicht, Dmitrij Schostakowitsch stand im Fokus, auch der Geiger David Oistrach erinnert sich: "Ich weiß noch gut, wie jedermann in Moskau Nacht für Nacht befürchten musste, verhaftet zu werden. Jede Nacht habe ich das Schlimmste befürchtet und für diesen Fall, der mir unausweichlich schien, warmes Unterzeug und etwas zu Essen bereitgestellt." Sergej Prokofjew, dem man in Moskau seine Jahre in Europa und den USA weder vergessen noch verziehen hatte, stand ebenfalls unter schärfster Beobachtung. Von jeher unpolitisch, versuchte er sich zu entziehen.

Jetzt heißt es arbeiten. Nur arbeiten! Das ist die Rettung.
Sergej Prokofjew

Aus Überzeugung oder doch nur Kalkül?

Prokofjew komponierte eine "Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution". Vielleicht aus Überzeugung und Begeisterung für die sowjetischen Ideale, sicherlich auch aus Kalkül, um Stalins Schergen zu geben, was sie wollten. Aber das Stück war für deren schlichte Gemüter zu überdimensional, zu gewaltig. Texte von Lenin in bester Absicht vertont – dann doch eine Spur zu krass, zu suspekt. Das "Komitee für Kunstangelegenheiten" verweigert die Aufführung. Doch Prokofjew will unbedingt wieder in den Westen; in Paris, London und Amerika lädt man ihn zu Konzerten ein. Außerdem braucht er Ersatzteile für seinen blauen Ford – zwei Jahre zuvor bei der letzten USA-Tournee das Ergebnis seiner lukrativen Honorare. Das Auto ist für den Ästheten Prokofjew eine Augenweide, für die Moskauer Funktionäre eine Provokation. Ein weiterer Stachel im Fleisch der kommunistischen Ideologie.

Also erniedrigt sich Prokofjew, bittet und bettelt devot um die neue Tournee: "Sehr verehrter Platon Michajlowitsch! Gestatten Sie, dass ich um Erlaubnis ersuche für eine zweimonatige Reise ins Ausland. Heifetz spielt überall mein Zweites Violinkonzert, Toscanini dirigiert meine Russische Ouvertüre. Ich denke, dass ich in vielen Gesprächen und Interviews die Möglichkeit haben werde, mit Nutzen über die Erfolge der sowjetischen Musik zu berichten."

Ausreisegenehmigung nur unter Schikanen

Als die Genehmigung kommt – immer wieder verzögert und nur unter Schikanen – lassen Lina und Sergej Prokofjew die beiden Söhne daheim in Moskau. In Amerika wird Prokofjew hofiert, er spielt vor geladenen Gästen in der Botschaft in Washington, am amerikanisch-russischen Institut in New York, er gibt Konzerte in Boston, Chicago, New York, Detroit und Denver. Trotzdem bleibt alles seltsam unterkühlt: "Er sprach fast mit niemandem, obwohl er gut Englisch konnte. Beim Essen schwieg er hartnäckig. Niemand bekam irgendwas aus ihm heraus", so ein Journalist.

Prokofjew trifft Walt Disney

Walt Disney, US-amerikanischer Trickfilmzeichner und Filmproduzent, Foto um 1940 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Walt Disney | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Was sie lieben, die Amerikaner, ist Prokofjews Musik. Vor allem die zu "Peter und der Wolf". Rudolph Polk, Geiger und Manager, ist davon so fasziniert, dass er Prokofjew nach Los Angeles einlädt, um ihn für die Verfilmung zu gewinnen. Prokofjew staunt nicht schlecht "über das unerwartete Interesse, das Hollywood an mir zeigt", und bleibt drei Wochen länger als geplant. Am 28. Februar 1938 trifft er, auf Vermittlung Polks, Walt Disney. Am Klavier spielt er Szenen aus "Peter und der Wolf" und begeistert den Meister des Trickfilms: "Er lud mich ein, Filmmusik für ihn zu komponieren, und offerierte eine wahrlich hübsche Summe." 2.500 Dollar Wochengage sind für einen Sowjetbürger mit Hang zur Exzentrik und extravaganten Luxusartikeln ein verlockendes Angebot. Auch der Künstler Prokofjew ist angetan davon, dass man seine Werke schätzt und nicht aus ideologischer Schikane ignoriert. Fasziniert von Disneys "Schneewittchen und den sieben Zwergen" und geschult durch die Filmmusiken zu den Eisenstein-Epen findet Prokofjew ernsthaft Gefallen an der Idee, Zeichentrickfilme musikalisch zu illustrieren.

Vertragsverhandlungen werden vereinbart, man führt Prokofjew durch die Paramount-Studios, man organisiert Treffen und Promi-Partys. Zu einer am Laguna Beach kommen Gloria Swanson, Arnold Schönberg und Marlene Dietrich. Doch Prokofjew bleibt auch hier Sowjetbürger; der Geheimdienst immer in der Nähe und die Abreise fix. Es mag für Lina und Sergej während der Wochen in Hollywood eine letzte Überlegung gewesen sein, dauerhaft im Westen zu bleiben. Aber was, wenn der finanzielle Erfolg nicht anhält? Und was, wenn den Kindern daheim in Moskau Schaden entsteht?

Am 16. April 1938 schifft das Ehepaar Prokofjew ein. Bald kommt der Krieg und alles anders. Es wird das letzte Mal gewesen sein, dass Sergej Prokofjew den Westen mit eigenen Augen gesehen hat.

Walt Disney erzählt später von seiner Begegnung mit Prokofjew

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PROKOFIEV & WALT DISNEY-Peter and the Wolf-Animation-Piano | Bildquelle: yensidtun (via YouTube)

PROKOFIEV & WALT DISNEY-Peter and the Wolf-Animation-Piano

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 3. Februar 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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