BR-KLASSIK

Inhalt

Béla Bartók Der wunderbare Mandarin

Sex and Crime – das war es, was seinerzeit Publikum, Kritiker und sogar Politiker an Béla Bartóks Ballett "Der wunderbare Mandarin" so sehr schockierte, dass das Stück sofort nach der Uraufführung wieder abgesetzt wurde. Denn keine schillernde Exotik verbirgt sich hinter diesem Titel, sondern ein brutales Morddrama in absolut trostloser Umgebung, von Bartók ganz drastisch in Musik gesetzt. Es ging ihm um die "Hässlichkeit und Widerlichkeit der zivilisierten Welt", wie er selbst sagte.

Der Komponist Béla Bartók | Bildquelle: © Leemage

Bildquelle: © Leemage

Das starke Stück zum Anhören

Eine hektische, trostlose, heruntergekommene Großstadt. Das zwielichtige Milieu von Kriminellen, Zuhältern und Prostituierten. Ein schonungslos gezeigter, brutaler Mord. Dazu eine radikale, verstörende und genauso schonungslose Musik. Bei der Uraufführung 1926 an der Oper Köln löste "Der wunderbare Mandarin" einen regelrechten Theaterskandal aus. Türenknallen, Pfiffe, Pfui-Rufe und ein Verriss in der Presse. Der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer ließ Bartóks Ballett sofort wieder vom Spielplan nehmen. Das allgemeine Urteil: unsittlich, ja pervers!

Es ist radikale Musik, das ist absolut sicher!
Kent Nagano zum 'Wunderbaren Mandarin'

"Die Thematik war sehr skandalös damals", sagt der Dirigent Kent Nagano zu dieser Partitur. "Ich habe als Amerikaner eine persönliche Sicht auf das Stück. Und nicht nur als Amerikaner, sondern als Amerikaner mit asiatischen Wurzeln."

Podcast

"Das starke Stück - Musiker erklären Meisterwerke" gibt es auch als Podcast: Jetzt abonnieren!

Dreifacher Mordversuch

Bühnenbild der Uraufführung; Gouache von Hans Strohbach | Bildquelle: picture alliance/akg-images Béla Bartók: Der Wunderbare Mandarin. Bühnenbild der Uraufführung; Gouache von Hans Strohbach | Bildquelle: picture alliance/akg-images Tatsächlich schildert Bartók zu Beginn ein ärmliches Viertel in einer Metropole, die durchaus irgendwo in Amerika sein könnte. In einem schäbigen Zimmer zwingen drei Zuhälter ein junges Mädchen, Freier anzulocken, um sie auszurauben. Die ersten zwei Männer werden wieder hinausgeworfen. Als dritter kommt ein reicher, unheimlicher Mandarin. Das Mädchen schaudert vor ihm und will fliehen. Es beginnt eine wilde Jagd. Drei Mal versuchen die Zuhälter, den Mandarin umzubringen: ihn zu ersticken, zu erstechen und zu erhängen. Vergeblich. Erst als das Mädchen ihn umarmt, fangen seine Wunden an zu bluten, und der Mandarin stirbt.

Der Schock der Großstadt

"Das Phänomen der Verstädterung ist im 19. Jahrhundert entstanden", erklärt Kent Nagano. "Das urbane Zentrum wurde damals wichtiger, wurde neu definiert, stand immer mehr im Fokus. Auch im gesellschaftlichen, im kulturellen Fokus. Für diejenigen, die vom Land kamen, war es sehr speziell, in die Großstadt zu gehen: der Lärm, die Geschwindigkeit, die Verwirrung – so viele Dinge, die zur gleichen Zeit passieren."

Alles stoppt für einen Moment, auch musikalisch.
Kent Nagano zum Erscheinen des Mandarins

Exotik bricht ein in die Tristesse

All dies legt Bartók auch in den Anfang seines Balletts mit seinen rotierenden Ostinati, der konfus scheinenden Rhythmik und den grellen Dissonanzen. Von diesem Pulsschlag der Großstadt führt die Musik ins Zimmer der Prostituierten. Die Klarinette begleitet ihr dreifaches Lockspiel, das von Mal zu Mal drängender und nervöser wird. Mit dem Auftritt des Mandarins ändert sich schlagartig die Atmosphäre. Exotik bricht ein in die Tristesse. "Man fühlt sehr deutlich diese urbane Energie", beschreibt Kent Nagano die Musik. "Und wenn dann das Geheimnisvolle, der Mandarin-Charakter erscheint, gibt es plötzlich eine Zäsur. Alles stoppt für einen Moment, auch musikalisch. Die Musik für die Mandarin-Figur ist ganz exotisch, ganz anders als die hektischen Großstadt-Klänge."

Schneidende Klänge und liebevolle Kantilenen

Ein wilder, erotischer Tanz des Mandarins mit dem Mädchen beginnt, der immer heftiger wird. Mit dem immer stärker werdenden Verlangen des Mandarins wächst auch die Angst des Mädchens. Eine panische Verfolgungsjagd beginnt. Dann der dreifache Mordversuch der drei Zuhälter: der Brutalität der Kriminellen steht das sehnsuchtsvollen Verlangen des Mandarins gegenüber. Auf wundersame Weise kann der Mandarin nicht sterben. Schneidende Klänge wechseln mit fast liebevoll erscheinenden Kantilenen. Am Ende dann die schon fast erlösende Umarmung des Mädchens. Der Tod des Mandarins als höchste erotische Erfüllung und schmerzhafte Erfahrung zugleich.

Ambivalenter Schluss

Dirigent Kent Nagano | Bildquelle: Felix Broede Der Dirigent Kent Nagano | Bildquelle: Felix Broede "Man hat so viele verschiedene Möglichkeiten, diese Stelle gedanklich und gefühlsmäßig zu werten", sagt Kent Nagano. "Einerseits ist es eine Befreiung: Gott sei Dank! Aber etwas ganz Trauriges: Was hat der Mandarin getan, um dieses Ende zu verdienen? Man kann auf verschiedenen Ebenen denken. Wir in Amerika stellen uns Bartók immer auch teilweise als Amerikaner vor", führt der Dirigent fort. "Er ist in die USA emigriert und dort gestorben. Er hat dort einige seiner größten Meisterwerke geschrieben, das Konzert für Orchester zum Beispiel. Aber wenn man in ein anderes Land kommt, bringt man etwas mit. Und ich würde sagen: Die Kultur, in der wir aufgewachsen sind, bleibt immer in uns."

Ein Stück musikalische Zukunft

Bartók schreibt den "Wunderbaren Mandarin" noch in Ungarn, zu einer Zeit, als die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie gerade zu Ende geht. In jeglicher Hinsicht möchte er in diesem Stück jedoch etwas darstellen, das wider die Natur ist: die Großstadt als Sinnbild für etwas Abweisendes und Degeneriertes. Genau das wird Bartók später in den amerikanischen Metropolen selbst erleben. So ist dieses Ballett, dessen Uraufführung so schockierend wirkte, in doppelter Hinsicht ein Werk, das in die Zukunft weist: musikalisch, aber auch menschlich.

Musik-Info

Béla Bartók:
"Der wunderbare Mandarin". Burleske Szenen in vier Bildern für Orchester


London Symphony Orchestra
Leitung: Kent Nagano

Label: Warner

Sendung: "Das starke Stück" am 12. Februar 2019, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

Mehr Orchestermusik

    AV-Player