Sie ist vergleichsweise kurz und ungewöhnlich aufgebaut, die 6. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Obwohl sie zu den weniger gespielten der insgesamt 15 Symphonien des Komponisten gehört, ist sie ein Meisterwerk, das sich zu entdecken lohnt. BR-KLASSIK hat mit dem Dirigenten GIanandrea Noseda über dieses Starke Stück gesprochen.
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Ein langsamer Satz zu Beginn, mit einer Kantilene im Fortissimo, nicht zielgerichtet, eher suchend; zart und doch wie unter Druck und ständig bedroht, verwoben mit Arabesken, die ins Nichts führen – so beginnt Dmitrijj Schostakowitsch seine 6. Symphonie. Er verzichtet auf den klassischen Satzaufbau von Thema, Durchführung und Reprise in diesem Eröffnungssatz. Stattdessen erleben wir eine ausladende Meditation wie ein großes Gebet.
Ab Frühjahr 1939 und bis in den Herbst hinein komponierte Dmitrijj Schostakowitsch an diesem Werk. Die vorangegangen drei Jahre waren hart für den Komponisten gewesen: Mit seiner Oper "Lady Macbeth von Mzensk" und seinem Ballett "Der helle Bach" war er bei der sowjetischen Staatsführung in Ungnade gefallen. Den Vorwurf des dekadenten Modernismus konnte er zwar mit seiner 5. Symphonie ein Jahr später wieder entkräften. Doch das feindselige Klima im Land gegen alle Künstler, die sich nicht systemkonform gaben, lastete auch auf ihm, obwohl er nun wieder rehabilitiert zu sein schien.
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Dünnes Eis, das auch die außenpolitische Lage betraf: Am 23. August 1939 unterzeichneten Stalin und Hitler ihren Nichtangriffspakt, der den Überfall Nazideutschlands auf Polen am 1. September möglich machte und den Beginn des 2. Weltkriegs markierte. Es ist, würde all dieses Unheil aus der Partitur sprechen: Nicht deutlich, eher zwischen den Notenzeilen: Mit machtvollen Streicher-Unisoni, bedrohlichen Bläsersätzen und angsteinflößenden Trillerketten, die sich wie ein Orgelpunkt durch diesen ganzen Satz ziehen.
Wir haben es mit einem echten Unikum im Universum von Schostakowitschs 15 Symphonien zu tun.
Dies sei eine "Symphonie ohne Kopf", murrten denn auch die Kritiker von Schostakowitschs Sechster. Beim Uraufführungskonzert am 21. November 1939 unter Jewgenij Mrawinskij in Leningrad vermissten sie sowohl die klassische Form als auch motivische Gedanken, die den mächtigen langsamen 1. Satz mit den beiden folgenden, überdrehten und recht knappen Sätzen inhaltlich verbinden. Eine Symphonie ohne Kopf? Der italienische Dirigent Gianandrea Noseda hält dagegen: "Ich denke, es ist eine 'anomale' Symphonie. Man könnte meinen, dass ihr der erste Satz fehle. In Wahrheit aber ist es eine Symphonie mit einer besonderen Kraft. Mir persönlich fehlt da kein erster Satz. Es stimmt natürlich: Die Symphonie erscheint zunächst ein bisschen disproportioniert zu sein mit diesem Kopfsatz, der länger ist als die zwei nachfolgenden zusammen. Der zweite Satz ist dann wie ein dämonisches Scherzo. Und der letzte Satz wirkt wie ein Galopp, eine Art Zirkuspolka oder ein Rondo, das – wie immer bei Schostakowitsch – voller Sarkasmus und Ironie steckt. Also haben wir es hier tatsächlich mit einer atypischen Symphonie zu tun – einem echten Unikum im Universum von Schostakowitschs 15 Symphonien."
Der Dirigent Gianandrea Noseda | Bildquelle: © Stefano Pasqualetti
Ein Unikum, das ein anderer Dirigent, Leonard Bernstein, in den 1980er Jahren in einem Film in Verbindung bringt mit Tschaikowskys "Pathetique": Sie, diese Sechste Symphonie von Tschaikowsky endet ungewöhnlicherweise mit einem langsamen Satz, einem Adagio-Lamento, das wie ein Abschied von der Welt wirkt. Und genau hier, wo Tschaikowsky aufhöre, beginne Schostakowitsch, so deutet es Bernstein. Ausgerechnet mit einem Adagio eröffnet er seine Sechste; mit einer persönlichen Beichte. Gianandrea Noseda hingegen blickt etwas anders auf die rätselhafte musikalische Konzeption in Schostakowitschs 6. Symphonie: "Ich könnte nie etwas gegen die Deutung eines Leonard Bernstein sagen! Meiner Meinung nach aber beginnt die 'Pathétique' von Tschaikowsky mit diesem besonderen Fagott-Solo, das aus dem Nichts kommt und auch im Nichts verklingt. Die 6. Symphonie von Schostakowitsch dagegen beginnt zwar in der Stille, endet aber im Zirkus! Ich weiß daher nicht, ob ich Schostakowitschs Sechste als eine Weiterführung der 'Pathétique' deuten soll. Für mich sind es zwei unterschiedliche Symphonien."
Dem langsamen Gebet vom Anfang folgt in Schostakowitschs Sechster ein absurdes Scherzo. Drängende Läufe, im steten Wechsel zwischen Solopassagen und Orchestertutti, werden mächtiger. Schließlich liefern sich Schlaginstrumente und Bläser einen groben Schlagabtausch, um plötzlich wieder auseinanderzugaloppieren. Am Schluss des Satzes scheint das Scherzo regelrecht davonzulaufen. Und macht – beginnend mit dem Schlusston des 2. Satzes – Platz für ein ebenso knappes Rondo.
Verspielt losjagend erinnert dessen Thema zunächst an Rossini oder Offenbach, weshalb dieser Satz vermutlich auch von den sowjetischen Kulturfunktionären bei der Uraufführung als "allgemeinverständlich" wahrgenommen wurde. Ausgestellter Optimismus und aufgesetzte Lebensfreude – wären da nicht die späteren Einbrüche und düsteren Passagen, die von einem zirkusartigen Can-Can aber schließlich wieder wie weggewischt werden. So, als ob die Bedenken, Ahnungen und Bedrohungen bloß nicht zu viel Raum gewinnen dürften.
Pure Heuchelei liest Leonard Bernstein daraus – Heuchelei, die sich erklärt durch den vorangegangenen tieftraurigen 1. Satz, dem zwei (wie Bernstein es nennt) "Comedy Acts" folgen. Oder doch echte Lebensfreude im Schlusssatz, wie der Dirigent Gianandrea Noseda meint? "Es ist ein Akt aus einer Komödie, ein Akt voller Leichtigkeit, der aber auch viel Ironie in sich trägt: Es gibt Elemente aus dem Zirkus, aber auch Elemente wie von einer Dorfkapelle – mit diesem Einsatz des Schlagwerks. Für mich führt das ein bisschen in die Nähe von Mozarts 'Don Giovanni': ein dramma giocoso – also ein lustiges Drama, das voller Jugendlichkeit und Freude steckt."
Dmitrij Schostakowitsch:
Symphonie Nr. 6 h-Moll, op. 54
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Gianandrea Noseda
(Eigenaufnahme)
Sendung: "Das starke Stück" am 20. Mai 2025, 19.03 Uhr auf BR-KLASSIK