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Modest Mussorgskij "Bilder einer Ausstellung"

1874 komponierte Modest Mussorgskij seinen Klavierzyklus “Bilder einer Ausstellung“ inspiriert durch die Gedenkausstellung seines Malerfreundes Victor Hartmann. Doch erst 50 Jahre später schafften es die musikalischen Bilder in den Konzertsaal - 1922 orchestrierte Maurice Ravel die "Bilder einer Ausstellung" und macht sie dadurch weltberühmt. Auch die Klavierfassung wurde dadurch bekannt und bleibt nach wie vor ein Favorit bei Pianisten. Julia Smilga hat mit dem Pianisten Michail Arkadjew über das Werk gesprochen.

Modest Mussorgsky Komponist Porträt | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Das starke Stück zum Anhören

"Es ist ein geniales Werk. Ein völlig neuer Klavierklang, der im Grunde bereits im 20. Jahrhundert angesiedelt ist. Eine Klangaskese einerseits, keine überflüssige Note und unendlicher Farbenreichtum. Andererseits sind sie auf einer besonderen Weise darin miteinander verknüpft." So schwärmt der Pianist Michail Arkadjew über Modest Mussorgskijs "Bilder einer Ausstellung".

Huldigung an einen befreundeten Maler

Die Komposition ist eine Hommage an einen verstorbenen Freund. Der Maler und Architekt Viktor Hartmann war Verfechter des "russischen Stils", seine Häuser und Ausstellungspavillons sahen aus wie Schlösser aus alten Märchen. Die Liebe zur russischen Folkskunst machte Hartmann zum Freund und Gleichgesinnten von Modest Mussorgskij. 1873 stirbt Hartmann mit nur 39 Jahren. Für Mussorgskij ist dieser Tod ein schwerer Schlag: "Man tröstet mich: Er sei nicht mehr da, aber seine Werke existieren noch, in denen lebe er weiter. Zum Teufel mit dieser tröstenden Weisheit! Ich kann es nicht akzeptieren, dass er nichts mehr schaffen wird!" So schreibt der Komponist an seinen anderen Freund, den Kunstkritiker Wladimir Stassow, im Sommer 1873. Ein halbes Jahr später veranstaltet Stassow in Sankt Petersburg postum eine Ausstellung mit Hartmanns Werken. Zeichnungen und Aquarelle aus seinem langjährigen Aufenthalt in Europa sind dort zu sehen, auch architektonische Entwürfe sowie Skizzen für Bühnenbilder und Kostüme - etwa 400 Werke.

Das sind Bilder, aber nicht nur einer Ausstellung, sondern Bilder der Welt.
Der Pianist Michail Arkadjew

Musik zum Bilderbetrachten

Michail Arkadjew am Klavier | Bildquelle: Michail Arkadjew Michail Arkadjew | Bildquelle: Michail Arkadjew Inspiriert von der Ausstellung macht sich Mussorgskij sofort an die Komposition eines Klavierzyklus. Seine Idee ist so einfach wie genial: Eine Art "Ich-Erzähler" streift durch die Galerie und betrachtet die Bilder. Das wiederkehrende Zwischenspiel der "Promenade" verbindet die zehn Bilder und spiegelt die Stimmung des Betrachters wider. Doch für den Pianisten und Komponisten Michail Arkadjew versteckt sich hinter diesem recht simplen Programminhalt ein viel tieferer Sinn: "Die 'Bilder einer Ausstellung' gelten als DAS russische Musikwerk schlechthin. Interessant: Die russische Sprache ist da jedoch wenig vertreten. Dafür verwendet Mussorgskij für seine Stücke sechs europäische Sprachen: Promenade, die Tuilerien, der Marktplatz von Limoges - französisch; dann: für Gnomus mittelalterliches Latein, danach: Vecchio Castello in italienischer Sprache, aus der Renaissancezeit. Auch interessant: Mittelalter und Renaissance folgen hier aufeinander. Dann Bydlo- polnisch. Dann zwei Juden Samuel Goldenberg und Schmuel - jiddisch. Eine solche babylonische Sprachvermischung ist für den Komponisten ein wichtiges Symbol. Sie verkörpert die Idee einer Zeitreise durch Länder und Epochen. Das sind Bilder, aber nicht nur einer Ausstellung von Viktor Hartmann, sondern Bilder der Welt."

Bereits beim ersten Bild, dem "Gnomus", zeigt sich, dass Mussorgskijs musikalische Ideen weit über die ursprüngliche visuelle Anregung hinausgehen. Der "Gnomus" war bei Hartmann ein Entwurf für einen Nussknacker mit großem Kopf und verkrümmten Beinen. Bei Mussorgskij lebt der finstere Zwerg auf. Der Unglückliche muss als Hoffnarr herumspringen, um die Herrschaft bei Laune zu halten.

Mussorgsky malt mit Musik

Nach einem romantischen Ausflug zu einer mittelalterlichen Burg führt Mussorgskij den Zuhörer nach Paris. Der Garten "Tuillerien", friedlich spielende Kinder unter Aufsicht ihrer Gouvernanten. So sah die Szene bei Hartmann aus. Mussorgskij malt sie weiter aus. Aus dem Spiel wird ein Streit mit Geschrei, die Kinder weinen und die Kindermädchen müssen trösten. Eines der interessantesten Bilder ist für Michail Arkadjew das Stück "Samuel Goldenberg und Schmyel". Auf dem Bild von Hartmann waren zwei polnische Juden dargestellt. Doch Arkadjew ist überzeugt, bei Mussorgskij gehe es nur um eine Person: "Hier prallen Kraft und Lamentation aufeinander. Für mich sind es zwei Seiten einer Gestalt. Zumal das Stück ja Samuel Goldenberg und Schmuel heißt. Schmuel ist die jiddische Verkleinerung von Samuel. Ich interpretiere es als den inneren Dialog eines Menschen, der Schmerz und Verzweiflung in sich spürt und zu überwinden versucht."

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Stringente Gestaltung

Viktor Hartmann - Bilder einer Ausstellung | Bildquelle: gemeinfrei Viktor Hartmann: "Das große Tor von Kiew" | Bildquelle: gemeinfrei Ähnlich wie Ravel in seiner Orchesterfassung verzichtet Arkadiev auf die folgende ausgedehnte Promenade, mit dem Ziel, den Zyklus stringenter zu gestalten. Nun ist der Zuhörer auf dem "Marktsplatz in Limoges", und dort herrscht große Aufregung. Die Nachricht des Tages: Eine Kuh ist entlaufen, so die Inhaltsangabe des Komponisten. Das Geschnatter der Marktweiber verlangt dem Interpreten hohe Fingerfertigkeit ab. Hier hat Michail Arkadjew eine Entdeckung gemacht: "Es hat bis jetzt niemand gemerkt: Die Hexe, die Baba Jaga, erscheint das erste Mal in Limoges. Baba Jaga ist zuerst eine französische Hexe. Das erinnert mich stark an Hoffmanns Märchen 'Der goldne Topf', als ein Marktweib sich dort in eine Hexe verwandelt. Mussorgsky liebte Hoffmann und ich denke, den Markt in Limoges gestaltet er im Zeichen dieser doppelsinnigen Welt Hoffmanns, in der Wunderbares und Reales sich nicht voneinander trennen lässt." In den "Katakomben" vermitteln die langen Akkorde die Atmosphäre einer bedrückenden Grabesstille. Der zweite Teil trägt den Titel "Cum mortuis in lingua mortua", mit den Toten in der Sprache der Toten. Hier spricht der Komponist mit dem Geist des verstorbenen Freundes. Der unheimliche Dialog beginnt im tragischen h-moll, doch es endet in Dur. Mussorgskij hat das Unabänderliche akzeptiert und sich mit diesem Tod ausgesöhnt.

Musiksprache der Zukunft

Das nächste Bild "Die Hütte auf Hühnerkrallen" oder "Baba Jaga" war bei Hartmann die Skizze einer Uhr in Form eines Hexenhäuschens. Bei Mussorgskij fliegt die böse Menschenfresserin in ihrem Mörser durch das geheimnisvolle Walddickicht, die harschen Akzente und barbarischen Rhythmen scheinen die Musiksprache von Igor Strawinskys und Bela Bartoks Sprache vorweg zu nehmen. Doch wohin fliegt die Hexe? "Die Hexe fliegt in das große Tor von Kiew ein", so ist Michail Arkadjew überzeugt. "Auch ein Symbol, diesmal ein sakrales. Es ist ein Tor zum Himmel, das Neue Jerusalem, ein mystischer Raum. Ich bin überzeugt, der letzte hymnische Teil der Bilder findet im Jenseits statt."

Musik-Info

Modest Mussorgskij: Bilder einer Ausstellung

Michail Arkadjew, Klavier
Label: RCD, DDD, 1994

Sendung: "Das starke Stück" am 19. September 2017, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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