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Ralph Vaughan Williams Symphonie Nr. 4 f-Moll

Der britische Komponist Ralph Vaughan Williams darf als einer der größten Symphoniker des 20. Jahrhunderts gelten. Vieles von seiner Musik scheint der Inbegriff "englischer" Musik zu sein und die grünen Wiesen und sanft geschwungenen Hügel seiner Heimat widerzuspiegeln. Doch Vaughan Williams konnte auch ganz anders als schwelgerisch spätromantisch: Werke wie seine Symphonien Nr. 4 und 6 schockierten das Publikum mit einer expressiven Zerrissenheit, die man ihm nicht zugetraut hatte. Andreas Grabner stellt die Vierte Symphonie f-Moll gemeinsam mit dem Dirigenten Sir Colin Davis vor.

Der Komponist Ralph Vaughan Williams | Bildquelle: picture alliance/Mary Evans Picture Library

Bildquelle: picture alliance/Mary Evans Picture Library

Das starke Stück zum Anhören

Als die Symphonie am 10. April 1935 in der Londoner Queen's Hall uraufgeführt wurde, glaubten viele zu wissen, was sie da erwarten würde: Vielleicht Hymnisch-Ekstatisches wie in Vaughan Williams' Erster Symphonie, der "Sea Symphony"? Oder zarte Elegien wie in seiner Dritten, der "Pastoral Symphony"? Oder vielleicht ja auch kecke englische Weisen wie in der "English Folksong Suite". Als dann jedoch der Dirigent Adrian Boult den Taktstock hob, war sicherlich der eine oder andere "not amused", vielleicht sogar verstört, oder einfach ratlos. Eines aber musste man anerkennen: Was das potentielle Ausdrucksspektrum seiner Musik anging, hatte man Vaughan Williams wohl unterschätzt – die Vierte war sein bisher wildestes, harschestes, aufwühlendstes Werk.

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Musik an der Grenze

Dabei hatte der Komponist doch die klassische symphonische Form eingehalten – Kopfsatz, langsamer Satz, Scherzo, Finale –, und auch die thematische Verarbeitung entsprach in ihren Grundzügen dem, was man von einer klassisch-romantischen Symphonie hätte erwarten können. Und doch besteht kein Zweifel daran, dass dies Musik des 20. Jahrhunderts ist, und zwar ebenbürtig dem, was zur gleichen Zeit auch die Kollegen auf dem Kontinent umtrieb. Dies meint zumindest Sir Colin Davis: "Das ganze Stück bewegt sich an der Grenze. Es ist so brutal und kräftig. Man spürt eine Ähnlichkeit mit Schostakowitsch, aber es ist noch härter, dissonanter und lauter."

Hektik und Konflikt – alles zusammen in einer großen Suppe. Man fühlt sich bombardiert!
Sir Colin Davis über das Finale von Vaughan Williams' Vierter Symphonie

Eine Fuge als letzter Trumpf

Sir Colin Davis | Bildquelle: BR Sir Colin Davis | Bildquelle: BR Nach der Gewaltorgie des ersten Satzes scheint sich im "Andante moderato" so etwas wie Beruhigung einzustellen: Über einem ostinatoartig absteigenden Pizzicato-Bass fangen Geigen und Bratschen an zu sinnieren – eine Tröstung jedoch will sich auch hier nicht einstellen. Im Scherzo dann geht es wieder zur Sache. Und doch: Wer glauben sollte, mit diesem wilden, düsteren Scherzo sei der Gipfelpunkt der Brutalität erreicht, der täuscht sich. Das Maximum nämlich des Gewaltsamen hat sich Vaughan Williams für das Finale aufgespart: Als "Umpah"-Musik hat der Komponist diesen grotesken Blechbläser-Reigen bezeichnet, der in diesem Satz zu hören ist – immer wieder durchkreuzt er zerstörerisch den symphonischen Zusammenhang. Und am Ende zieht Vaughan Williams noch einen Trumpf aus der Tasche: Als man schon meint, nun gehe das Stück seinem Schlusspunkt entgegen, da hängt er noch einen Epilog an, ausgerechnet in Form einer Fuge über eines der beiden Hauptthemen. "Das geht auch über die Grenze", sinniert Sir Colin. "Hektik und Konflikt – alles zusammen in einer großen Suppe. Man fühlt sich bombardiert!"

Oh, es geht um f-Moll!
Ralph Vaughan Williams über die Bedeutung seiner Vierten Symphonie

Vorausahnung des Krieges?

Was aber hatte das alles zu bedeuten? Kein Wunder, dass das enigmatische Stück zu Spekulationen Anlass gab: Manche wollten darin eine musikalische Vorausahnung jenes Unheils sehen, in das Europa fünf Jahre später stürzte, des Zweiten Weltkriegs. Der Komponist selbst mochte sich nicht als Prophet sehen – als man ihn fragte, worum es in dem Stück gehe, war seine knappe Antwort: "Oh, es geht um f-Moll". Später allerdings verteidigte er es in einem Brief ein bisschen weniger lakonisch: "Wenn Sie sagen, dass Sie meine f-Moll-Symphonie nicht schön finden, kann ich Ihnen nur entgegnen, dass ich sie in der Tat schön finde – und sie nicht etwa bewusst nicht schön gestaltet habe, weil sie schwierige Zeiten widerspiegelt. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich die Symphonie mag – aber sie ist das, was ich seinerzeit gemeint habe."

Musik-Info

Ralph Vaughan Williams:
Symphonie Nr. 4 f-Moll


Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Sir Colin Davis
(Konzertmitschnitt)

Sendung: "Das starke Stück" am 12. März 2019, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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