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Was heute geschah – 1. Februar 1976 Paul Dessau vertont Erich Honecker

Mit 81 Jahren ist Paul Dessau ein renommierter Komponist, dessen Werke allenthalben geachtet werden. Nun, im Jahr 1976, vertont er Worte des damaligen neuen Starken Mannes der SED: Erich Honecker, in einem Chorstück – und dies scheinbar ohne jeglichen Hintersinn. Genutzt hat ihm dies wenig.

Der Komponist Paul Dessau dirigiert das Orchester der Deutschen Staatsoper am 20.12.1969 in Ost-Berlin | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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"Zeuthen, 1. Februar 1976. Chorstück nach einer Rede von Genossen Honecker ist fertig. Soll zum 9. Parteitag gespielt werden. Das leichte Stück in C-Dur geschrieben, hat viel Arbeit gemacht." So notiert Paul Dessau in sein Tagebuch.

Ironiefreie Vertonung

[18.01.1989] Der Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker, aufgenommen am 8. Oktober 1989 während der Feierlichkeiten anlässlich des 40-jährigen Bestehens der DDR. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Erich Honecker, aufgenommen am 8. Oktober 1989 während der Feierlichkeiten anlässlich des 40-jährigen Bestehens der DDR | Bildquelle: picture-alliance/dpa Unglaublich, aber wahr: Der renommierte Komponist, einst Lieblingsmusiker von Brecht, jetzt stolze 81 Jahre alt, Professor in Ost-Berlin, mit seinen Opern international erfolgreich – er lässt jetzt solche Sätze singen: "Großes wurde vollbracht / Im Bruderbund mit der Sowjetunion / Der Imperialismus ist in der Defensive / Der Fortschritt ist auf dem Vormarsch". Phrasen des neuen starken Manns in der DDR – Erich Honecker. Paul Dessaus vertont sie völlig ironiefrei – in seiner "Chormusik Nr. 5 mit großem Orchester und Bass-Solo nach einer Rede unseres Ersten Sekretärs Erich Honecker gedichtet von Heiner Müller komponiert von Paul Dessau". Wie kann ein Komponist sich so anbiedern? Zumal Dessaus Tagebücher eine ganz andere Sprache sprechen. In ihnen verzweifelt er regelmäßig an der real existierenden DDR, dem Staat, an den er einst geglaubt hat: "Ihr seid mir schöne Sozialisten! Was für einen erbärmlichen Ertrag hinterlassen wir unseren Nachfahren!"

Nur scheinbar loyal

Die SED-Führung hält ihn längst für einen lästigen Querulanten. Denn der Nationalpreisträger Dessau, der sich nach außen hin loyal gibt, verteidigt hinter den Kulissen die Freiheit junger Künstler. Ist die Chormusik womöglich auch in diesem Kontext zu sehen? Auffällig ist, dass Dessau Honeckers Worte ausgerechnet von einem Schriftsteller in Versform gießen lässt, der in der DDR zeitweilig mit Berufsverbot belegt war: Heiner Müller.

Dokument für die Mottenkiste

Ist die Chormusik also ein Versuch, Heiner Müller aus der Schusslinie zu nehmen? Oder will Dessau mit seiner sperrigen Musik gar den künftigen Staatsratsvorsitzenden ästhetisch erziehen? Honeckers Begeisterung über die modernen Klänge hält sich jedenfalls in Grenzen: Die geplante Parteitagsaufführung findet nicht statt. Lediglich vom DDR-Rundfunk wird das Opus aufgezeichnet und verschwindet dann in der Mottenkiste – als bizarres Dokument der deutsch-deutschen Geschichte.

Dessau vertont – hier nicht Honecker, sondern Brecht

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Paul Dessau (1894-1979): Kampflied der Schwarzen Strohhüte (1936) | Bildquelle: Thorsten Gubatz (via YouTube)

Paul Dessau (1894-1979): Kampflied der Schwarzen Strohhüte (1936)

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 1. Februar 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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