An der Pforte der Royal Shakespeare Company in Stratford-upon-Avon steht ein Bote und überreicht ein Paket. In aller Eile, denn die Sache ist streng geheim. Außerdem graust es ihn, denn der Inhalt des Pakets ist ebenso ungewöhnlich wie makaber: Es ist der Schädel eines toten Pianisten.
Bildquelle: Danny Gohlke/ddp
Vor wenigen Monaten spielte André Tchaikowsky noch vor großem Publikum. Auch wenn die Vermutung nahe liegt, mit dem großen Peter Tschaikowsky ist er nicht verwandt. Aber auch André komponiert, gibt Konzerte und ist ein bisschen verrückt. Neben der Musik hat er noch eine zweite große Leidenschaft: Shakespeare. "Hamlet" fasziniert ihn ganz besonders, vor allem wie der Prinz den Totenschädel des alten Hofnarren Yorick in der Hand hält. Im Theater ist dieser selbstverständlich nur ein Imitat. Was aber, wenn der Schädel echt wäre? Dieser Gedanke lässt André Tchaikowsky keine Ruhe. Als er sein Testament schreibt, ist er gerade einmal 44 Jahre alt. Vielleicht ahnt er, dass er nicht mehr lange leben wird. Denn tatsächlich stirbt André Tchaikowsky keine drei Jahre später überraschend an Krebs.
"Hiermit verfüge ich, dass mein Körper oder Teile davon für therapeutische Zwecke einschließlich Hornhauttransplantation und Organtransplantation oder für medizinische Ausbildung und Forschung benutzt werden darf. […]
Mit Ausnahme meines Schädels! Der soll […] der Royal Shakespeare Company angeboten werden – um ihn für Theateraufführungen zu verwenden."
Als sein Freund und Manager Terry Harrison nach Andrés Tod das Testament in der Wohnung entdeckt, setzt er alles daran, den letzten Willen des Verstorbenen zu erfüllen. Die Royal Shakespeare Company reagiert zunächst irritiert, als sie von ihrer ungewöhnlichen Erbschaft erfährt. Dann aber entschließt man sich, den Schädel anzunehmen. Weil das Bestattungsinstitut die Erbschaft jedoch für illegal hält, muss das britische Innenministerium erst der Übergabe des Schädels zustimmen. Zehn Tage später erhält die Royal Shakespeare Company dann doch das Paket mit dem skurrilen Inhalt. Aber wohin jetzt damit? Zunächst kommt er erst einmal auf den Dachboden des Gebäudes – zum Trocknen und Ausbleichen.
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David Tennant as Hamlet - "Alas, Poor Yorick" Speech (from Act 5 Scene 1)
Erst zwei Jahre später holt man den Schädel herunter – für eine "Hamlet"-Produktion. Allerdings fühlen sich die Schauspieler mit ihrem knöchernen Kollegen nicht ganz wohl. Aus Tchaikowskys ersehntem Hamlet-Debüt wird deshalb vorerst nichts. Stattdessen verbannt man den Schädel in die Requisitenkammer, wo er jahrzehntelang vergeblich auf seinen Einsatz wartet. Im Juli 2008 klappt es schließlich doch noch: Als Hofnarr Yorick gibt André Tchaikowsky in Shakespeares "Hamlet" sein posthumes Bühnendebüt.
André Tchaikowsky kam 1935 in Polen zur Welt. Mit 19 Jahren gewann er als jüngster Teilnehmer beim Chopin-Wettbewerb in Warschau den achten Platz, ein Jahr später erhielt er in Belgien den dritten Preis beim Queen-Elizabeth-Klavierwettbewerb. Dort lernte er auch seinen Förderer Arthur Rubinstein kennen, der sofort vom Talent des jungen Pianisten beeindruckt war. Bald reichte ihm das Klavierspielen alleine nicht mehr und er begann zu komponieren. Am 26. Juni 1982 starb André Tchaikowsky in Oxford.
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Sendung: "Allegro" am 20. Juli 2021 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK