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Phänomen absolutes Gehör Von der Erforschung einer seltenen Gabe

Sie brauchen keine Stimmgabel und sie brauchen keinen Vergleichston. Menschen mit absolutem Gehör erkennen jeden Ton auf Anhieb. Denn sie verfügen über eine besondere Form von Gedächtnis, die man nicht einfach so erlernen kann. Mozart, Bach und Paganini sollen es gehabt haben, aber auch der Gitarrist Jimi Hendrix. Nur: Woher kommt das absolute Gehör? Warum haben es manche Menschen, die meisten aber nicht? Und wodurch unterscheidet sich das Gehirn eines Absoluthörers von dem anderer Menschen?

Medizinische Zeichnung eines rechten Ohres | Bildquelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Bildquelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Wissenschaftliches Phänomen:

Absolutes Gehör

Die Wissenschaft ist dem Phänomen des absoluten Gehörs schon lange auf der Spur. Einiges hat man herausgefunden, aber noch immer sind viele Fragen offen.

Florian Sonnleitner ist Erster Konzertmeister im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks - und er ist Absoluthörer. Er kann jeden Ton sofort und allein durch das Hören benennen. Eine Gabe, die angeblich nur einer von 10.000 Menschen besitzt. Bei Musikern ist sie jedoch häufiger anzutreffen. Dass Florian Sonnleitner absolut hören kann, zeigte sich schon sehr früh. "Meine Eltern haben mir erzählt, dass ich immer heftig protestierte, wenn meine Mutter mir abends Kinderlieder vorgesungen hat - und an einem Abend eine Terz höher, am nächsten eine Sekunde tiefer gesungen hat."

Musikalische Frühförderung spielt eine Rolle

Aber woher kommt das absolute Gehör? Vieles spricht für eine genetische Komponente. Auch scheint eine frühzeitige musikalische Förderung eine Rolle zu spielen. Denn vor dem siebten Lebensjahr vernetzen sich die Nervenzellen im Gehirn am besten miteinander. Später kann man das absolute Gehör im Prinzip nicht mehr erlernen. Eine andere Theorie geht davon aus, dass praktisch alle Babys mit einem absoluten Gehör geboren werden.

Diese Theorie besagt aber auch, erklärt Hirnforscher Eckart Altenmüller vom Institut für Musikermedizin in Hannover, dass Babys das absolute Hören wieder verlernen. Und zwar durch den Kontakt mit Vater und Mutter. "Wenn die Mutter zu ihrem Baby in der hohen Stimme spricht und der Vater über die gleichen Inhalte in einer tiefen Stimme, dann ist das für den Säugling natürlich von Vorteil, wenn er das Gleiche abstrahieren kann - von der Tonhöhe. Deshalb verlernt er das absolute Gehör innerhalb der ersten Lebensjahre."

Musiker mit absolutem Gehör sind privilegiert

Für Musiker ist ein absolutes Gehör äußerst praktisch. Die Sopranistin Juliane Banse kann dank dieser Fähigkeit selbst die kompliziertesten Melodien einfach vom Blatt singen. Bereits beim Lesen der Noten, weiß sie, wie diese klingen. "Das hilft mir beim Schnelllernen und natürlich besonders bei der zeitgenössischen Musik. Weil gerade diese Musik oft ungewöhnlichere Intervalle beinhaltet, die ich mir eben schneller vorstellen kann. Da bin ich schon privilegiert - und weiß es auch sehr zu schätzen." Dennoch bringt ein absolutes Gehör nicht nur Vorteile mit sich. Denn Absoluthörer tun sich oft schwer beim Transponieren, weil die Noten dann höher oder tiefer klingen als sie geschrieben sind. Absoluthörer müssen demnach ständig umdenken.

Ein Blick ins Gehirn gibt Hinweise

Ein Blick ins menschliche Gehirn zeigt: Bei Absoluthörern ist einiges anders. Wie Forscher vom Kopfklinikum Heidelberg festgestellt haben, sind die so genannten Heschl’schen Querwindungen bei Absoluthörern auf der rechten Seite deutlich vergrößert. Hier findet die primäre Klangverarbeitung statt. Bei Nicht-Absoluthörern ist beim Musikhören generell die linke Gehirnhälfte aktiver.

Die Fähigkeit, absolut zu hören, verändert sich bei vielen im Alter. Häufig nehmen die Betroffenen Töne dann als tiefer wahr als sie tatsächlich sind. Das liegt wohl daran, dass die Elastizität der Basilar-Membran im Innenohr, das heißt, der Region, auf der die Sinneszellen für das Hören sitzen, sich verändert. Und das führt dann dazu, dass Sinneszellen, die früher etwa für den Ton a zuständig waren, jetzt die Zellen für den Ton b sind.

Mehr Absoluthörer als bislang angenommen

Mehr darüber, wie sich das absolute Gehör generell im Laufe des Lebens entwickelt oder verändert, soll in den nächsten Jahren am Institut für Musikermedizin in Hannover näher untersucht werden. Es gebe noch viel zu erforschen, so Eckart Altenmüller. So scheint es eine Verbindung zwischen dem absoluten Gehör und Autismus zu geben, da beides häufig zusammen auftritt. Außerdem ist Altenmüller sich sicher, dass es weit mehr Absoluthörer gibt als bisher angenommen. Er glaubt sogar, es könnten ein bis zwei Prozent sein.

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