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Buchtipp: "Musik und Gesellschaft" Großprojekt mit essayistischer Freiheit

Es ist ja ein immer wieder gern herbeizitiertes Klischee, dass uns die Musik über das Irdische hinausträgt, ins Himmelreich des Metaphysischen und so weiter. Wer auf solchen Kitsch keine Lust hat, für den könnten die zwei dicken Bände etwas sein, die sich "Musik und Gesellschaft – Marktplätze, Kampfzonen, Elysium" nennen. 1.400 Seiten, die zeigen, dass Musik- und Sozialgeschichte nicht voneinander zu trennen sind.

Buchcover – Musik und Gesellschaft – Marktplätze, Kampfzonen, Elysium | Bildquelle: Verlag Königshausen & Neumann

Bildquelle: Verlag Königshausen & Neumann

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"Musik und Gesellschaft"

Dass es sowas überhaupt noch gibt. Zwei Bände, schwer wie Ziegelsteine. Geeignet, um Burgen zu bauen. Oder Bunker. Oder ein Archiv der Musikgeschichte, das sich kilometerweit in den Boden schraubt, weil alles rein muss, was auch zwischen diesen zwei, naja eigentlich vier Deckeln seinen Platz hat: über tausend Jahre Musik und Gesellschaft. Hier könnte man allerdings schon stutzig werden. Über tausend Jahre? Dafür sehen sie schon wieder erstaunlich schlank aus, die zwei Bände. Und tatsächlich: alles Camouflage. Außen: Staubfängerästhetik. Innen: ein ausgesprochen antisystematischer Angang und sehr viel essayistische Freiheit.

Kurz und bündig

Dieses Buch liest man am besten ...
… ohne Ziel. Mit entspannter Neugier.

Dieses Buch ist wie geschaffen für …

… alle jene, die knarzende Buchrücken nicht für einen Spuk vergangener Zeiten halten.

Dieses Buch wird lieben wer …
… die Behauptung, diese oder jene Musik sei nicht von dieser Welt, nicht mehr hören kann.

Texte von vielen Autorinnen und Autoren

Über 100 Autorinnen und Autoren haben über 400 zwei- bis dreiseitige Texte zugeliefert. Darunter viele Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler. Komponisten wie Moritz Eggert. Und eine ganze Reihe von Journalistinnen und Journalisten: Wolfgang Sandner zum Beispiel, der sich bei der FAZ um den Jazz kümmert und sich in "Musik und Gesellschaft" unter anderem das "Köln Concert" von Keith Jarrett vorknüpft. So beschreibt Sandner etwa das weiße Cover des "Köln Concert", das den Plattenschrank in den 1970er und frühen 1980er Jahren wie die Poster von Che Guevara und Angela Davis die Wände von Studentenwohnungen ein Jahrzehnt zuvor geziert habe.

Die Musik wurde als unmittelbarer Ausdruck jener Zeit empfunden und erschien zugleich wie ein Reflex auf sie. Mit diesen monomanischen Rhapsodien schlug der Jazz endgültig eine konservative Richtung ein.
Wolfgang Sandner über Keith Jarrett

Jene Schnittstellen zu beleuchten, an denen sich das Ästhetische mit dem Gesellschaftlichen verbindet, das ist das eigentliche Ziel aller Texte dieser zwei Bände. Das eint die Perspektiven – so unterschiedlich sie ansonsten sein mögen. Gleich, ob es um ein bestimmtes Genre geht – Beispiel: Battle Rap – um eine bestimmte Klasse musikalischer Protagonisten – etwa die Kastratensänger im 18. Jahrhundert, auf der Bühne gefeiert, jenseits davon geächtet. Oder um einen ganzen Themenkomplex wie Musik und Machtmissbrauch.

An die Stelle des Privatunterrichts traten nun Konservatorien und Akademien, es lehrten Professoren mit der Macht über Schicksale und Karrieren.
Moritz Eggert  

Eine Geschichte, die länger ist, als man vielleicht erwarten würde – wie Moritz Eggert zeigt. Eggert nennt das 19. Jahrhundert, als die Musikausbildung neu strukturiert wurde. Bereits Frank Wedekind thematisierte 1906 in seiner Tragikomödie "Musik", dass diese Macht auch für Sex benutzt wurde.

Moderner Geschichtsbegriff

Auch wenn die einzelnen Essays chronologisch geordnet sind – als Leser ist man vom chronologischen Durchmarsch befreit. Die Geschichte wird hier nämlich multiperspektivisch aufgelöst. Fragmentiert sich in Episoden und Anekdoten, deren Verbindungen man sich als Leser selbst erschließen muss. Moderner Geschichtsbegriff halt. Oder: Prinzip Wikipedia. Tatsächlich sind in den einzelnen Texten sozusagen Links installiert. Verweise auf andere Texte im Buch, anhand derer man sich durch die Seiten treiben lassen kann. Faire Frage: Wieso nicht gleich Wikipedia? Also: Klicken statt Blättern. Geht ja im Zweifelsfall schneller.

Erzählende Texte, gut recherchiert

Trotzdem liegen die Vorteile dieser zwei Ziegelsteine auf der Hand. Im Gegensatz zu Wikipedia enthalten sie erzählende Texte, oft unterhaltsam, immer elegant, und unter Garantie gut recherchiert… und selbst das erratischste Wikipedia-Klickfestival würde einen wahrscheinlich nicht zu Filippo Balatri führen. Ein Kastrat an der Schwelle zum 18. Jahrhundert, der nicht nur viel rumkam, der Zar Peter dem Großen genauso vorsang wie dem Großkhan in der Wilden Tartarei. Sondern der zu unserem Glück auch noch ausführlich Tagebuch geführt, und darin einige ausgezeichnete Beobachtungen über Bayern und seine Bewohner angestellt hat und dabei feststellte, dass die Münchner sehr katholisch seien, Fremde nicht mögen und täglich vier Liter Bier zu sich nähmen. Eine Erkenntnis von dauernder Schönheit.

Weitere Informationen zu den Büchern

"Musik und Gesellschaft“ ist in zwei Bänden beim Verlag Königshausen und Neumann erschienen und kostet derzeit 58 Euro.

Sendung: "Allegro" am 23. November 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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