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Buchtipp – "Verrisse" von Thomas Leibnitz Respektloses zu großer Musik

So einen richtigen Verriss liest man heutzutage selten. Vielleicht war der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki der letzte wilde, ungezügelte, ja fast wütende Meister im Verreißen. Zu Zeiten von Beethoven oder auch Mahler gehörte der Verriss in der Musik zum Alltag. Solch stänkernde Kritiker-Zitate finden sich manchmal in Programmheften und lösen Kopfschütteln oder Lächeln aus. Wer mehr von so was will, der bekommt eine Art best-of im Buch "Verrisse" des Musikwissenschaftlers Thomas Leibnitz.

Buch-Cover "Verrisse" | Bildquelle: Residenz Verlag

Bildquelle: Residenz Verlag

Buchtipp

"Verrisse" von Thomas Leibnitz

Ein böse formulierter Verriss lässt das Business florieren und den Geldbeutel klingeln. Das gilt für den Kritiker. Und nicht selten auch für das kritisierte Werk. Quasi Negativ-Werbung. Mal ganz ehrlich, so eine Kritik über eine Sinfonie, die macht schon neugierig:

Wenn es in seiner Wohnung aussähe wie in seiner Symphonie, dann hielte es eine wohlgeartete Hausfrau nicht vier Tage lang dort aus.

In dem Satz steckt mehr drin, als bloß: das Stück ist Mist. Möglicherweise sieht es nämlich in der Wohnung wirklich aus wie in der Sinfonie und der Komponist suhlt sich im Dreck. Oder er hat vielleicht ein Problem mit Frauen. Gemeint ist Bruckners Dritte.

Kurz und bündig

Das Buch lohnt sich, weil ...
... darin aus voller Lust verbal gespuckt, geschossen und gegeifert wird (ohne, dass es jemandem weh tut).

Das Buch lädt ein ...
... zum neu Hören altbekannter Klassiker

Dieses Buch hat gefehlt, weil ...
... es nicht nur Verrisse auflistet, sondern die auch einordnet.

Angriffe unter der Gürtellinie

Der sinfonische Schmutzfink Bruckner, dann Beethoven, Brahms, Verdi, Mahler, Wagner, Strauß und Schönberg, das sind die Helden, oder besser Anti-Helden im Buch "Verrisse". In verdichteter Form hat der Autor Thomas Leibnitz Ausschnitte aus Kritiken aneinandergereiht. "Und ja, da wird’s oft richtig persönlich, geht mit griffigen Metaphern unter die Gürtellinie. Autor Thomas Leibnitz ist Direktor der Musiksammlung der österreichischen Nationalbibliothek und sitzt damit an der Quelle: da nämlich, wo all die alten Kritiken aufbewahrt werden.

"Er schreibt wie ein Betrunkener"

Im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert wurde Galle gegeifert, verbal bespuckt, herumgehackt, beleidigt. Ganz gleich, ob einer heult. Eduard Hanslick, gelernter Jurist und Österreicher, war der König der Kritikerkratzbürsten. Er und seine Nachahmer legten alles drauf an, damit am Ende eine krasse Formulierung rüberkommt.

Vielleicht könnte man den Kritiker auch wie folgt kategorisieren:

Der Kritiker als Zoologe
"In mehreren Stockwerken huschen Akkorde und Akkordklitterungen, Motivchen, Motivteilchen übereinander weg wie die Ratten auf dem Dachboden."

Der Kritiker als verkappter Poet
"Das Orchester fabriziert unter höllischem Aufpassenmüssen  Läuferchen, Trillerchen, Tonbröckchen, Fagottgeheul."

Der Kritiker als Psychologe
"Das sind Spuren eines kränkelnden Geistes"

Der Kritiker als Recycling-Experte
"Das Werk erweist leider einen nicht erwarteten ästhetischen und künstlerischen Abfall des Komponisten."

Der Kritiker als Hüter einer Instanz

Hinter all den wüsten Worten steckt eine Haltung des Kritikers: Er sah sich als Hüter einer Instanz. Als Bewahrer einer Ästhetik. Ein bisschen wie der barocke Fürst, der, wenn er ein Stück leiden mochte, einen güldenen Becher rüberwachsen ließ. Oder eben den Komponisten samt Kapelle rausschmiss.

Thomas Leibnitz beschreibt es so: Nicht der Fürst wird sich auf die Musik zubewegen, sondern die Musik hat sich um ihn zu bemühen. Aus dem Begriffsarsenal der Finanzverwaltung entlehnen wir ein Begriffspaar: Bringschuld und Holschuld.

Der Komponist war also in einer Bringschuld. Und nicht das Publikum in einer Holschuld. Wir heutzutage sind in einer Holschuld. Wenn wir ein Stück nicht checken, haben wir uns einfach nur nicht genug damit beschäftigt!

Neue Perspektiven auf altbekannte Klassiker

Die Beschäftigung mit dem Buch "Verrisse" vermag zweierlei: Es bringt einfach Spaß, und es gibt eine neue Ohrenperspektive auf altbekannte Klassiker. Vielleicht fällt einem ja dann beim Absacker nach dem nächsten Brahms-Klavierkonzertabend sowas dazu ein:

"Wer dieses Clavier-Concert mit Appetit verschlucken konnte, darf ruhig einer Hungersnoth entgegensehen; es ist anzunehmen, daß er sich einer beneidenswerthen Verdauung erfreut und in Hungersnöthen mit einem Nahrungs-Äquivalent von Fenstergläsern, Korkstöpseln, Ofenschrauben und dgl. mehr sich vortrefflich zu behelfen wissen wird!"

Infos zum Buch

Thomas Leibnitz
VERRISSE Respektloses zu großer Musik von Beethoven bis Schönberg
256 Seiten, mit zahlreichen Abbilungen
Residenz Verlag
28,00 Euro

Sendung: "Leporello" am 13. Oktober 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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